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Osten aus Lemberg, Stanislau, Przemysl, Kolomea, wie immer die Städte hießen, vertrieben, hier lebten neben den Weintraubs und Goldsands auch die Bazants, die Sebastianis, also die „Böhmen“ und Italiener, die im früheren Wien zusammen mit den Tschechen dafür sorgten, daß ein ordentliches Heer von Arbeitskräften vorhanden war, unter anderem zu der Donauregulierung, ohne die hier kein Haus errichtet werden hätte können. Ein Zuwandererund Flüchtlingsviertel, abgewohnt, verlaust, verarmt. In Theas Volksschulklasse hatte ein Drittel der Kinder jüdische Eltern, und in Theas Haus in der Stuwerstraße wohnten die Werners Tür an Tür mit bekannten — und immmerzu geldknappen — Praterartisten und deren „Impresario“, wie der pompöse Titel des Herren lautete, der Varietékiinstler an Vergniigungslokale und Schausteller vermietete. „Bubi“ wurde der Impresario gerufen. „Unter Vertrag“ hatte er solche Größen wie die „dicke Berta“ und die „Dame ohne Unterleib“. Das war ein Lichtblick. Für die kleine Ihea existierte neben dem Elend und der Prostitution, die die Straßen beherrschten, noch eine andere Welt, denn ihr Vater, Eisenbahner bei der Nordbahn, war, wie gesagt, Sozialdemokrat und hatte eine Beziehung zu den sozialdemokratischen Einrichtungen des Viertels. Erstens gab es ein Lokal der Kinderfreunde an der Ausstellungsstraße, zweitens im Lassallehof eine große Kinderbibliothek, drittens gab es das AKH. Das AKH ist nicht die Abkürzung für Allgemeines Krankenhaus, sondern — ich bin mir nicht sicher — für „Allgemeines Kinder-Heim“. Jedenfalls befand sich das AKH auf dem heutigen Mexikoplatz, damals „Volkswehrplatz“, vor der Jubiläumskirche, verdeckte also den Zugang zur Kirche von der Südseite her. Der Platz vor der Kirche war die Spielwiese der Kinder, die in dem einstöckigen AKH-Gebäude Räume für Heimabende, Bastelarbeiten, vielleicht einen Tischtennistisch und Malsachen vorfanden. Das AKH war die wichtigste von allen Einrichtungen. Nichts Antisemitisches hat Thea bis 1938 in dem nach einer Feuerwerker-Familie benannten Stuwerviertel erlebt, weder in der Schule, noch auf der Straße. Ich verdanke diese Impressionen einem Gesprach mit Thea Scholl im Jahre 2004. Etliche WiderstandskämpferInnen waren aus der Gegend. Der Urgroßvater väterlicherseits der im schwedischen Exil geborenen Frau des amtierenden Bundespräsidenten betrieb hier eine Bäckerei und Greißlerei. Aus dem Jahr 1984 stammt ein Interview, das Irene Etzersdorfer mit Thea Scholl im Rahmen des DÖW-Projektes „Erzählte Geschichte“ geführt hat. Da erzählt Thea von „fürchterlichen Geschichten“ nach dem März 1938: . wir sind eines Tages alle geholt worden. Da ist ein Mann hereingekommen ... und hat gesagt ... wir müssen Eimer und Besen mitnehmen und Wischtücher. Da gab es an der Ecke Stuwerstrafse ein altes jüdisches Bethaus und Kaffeehaus ... Das haben sie umgemodelt zu einem Nazilokal, und das muften wir säubern. ... Dort haben wir alle Juden aus unserer Umgebung getroffen. Ärzte ... Aber da ist dann ein SS-Mann gekommen, ein junger, der war auch aus unserer Strafe. Das war etwas sehr Seltenes, er war ein höherer SS-Mann und ich habe als Kind mit dem gespielt. Und er hat uns da gesehen und hat gesagt: „Kameraden, das ist unwürdig.“ ... und wir wurden nach Hause geschickt. ... aber da haben wir schon sehr viel geputzt gehabt. Nach dem Novemberpogrom wurde die Familie in den frühen Morgenstunden noch einmal auf die Straße gejagt. „Wir sind durch den Bezirk geführt worden, durch ein entsetzliches Spalier 12 Z2WISCHENWELT von Pöbel, der uns beschimpft hat. Manche haben gespuckt und manche haben geworfen ...“ Das Stuwerviertel war bis zum Jahr 1938 eine ziemlich ‚rote‘ Gegend. Nach 1945 galt es als ‚vernazt‘. Hier hatten kleine Nazis die Wohnungen von armen Juden bekommen. Manchmal frage ich mich, warum sich die Nazis noch auf die armseligsten Besitztümer der Juden stürzten. Brachen sie die Dielen auf und suchten nach den verborgenen Schätzen der Weisen von Zion? Oder glaubten sie, durch ihre körperliche Anwesenheit das Wiedereindringen von „Juden“ verhindern zu müssen? Wenn ich heute beiläufige Bemerkungen der älteren Bewohner des Stuwerviertels auf der Straße höre, glaube ich, es mit einem Geschlecht heroischer Frührentner zu tun zu haben. Sie sind schon die Kinder derer, die statt der Juden eingezogen sind, und halten die Stellung. Mit Argwohn beobachten sie Eindringlinge, klassifizieren das Menschenmaterial. Bei den Gemeinderatswahlen 2015 und auch schon bei früheren Wahlgängen erreichte die Freiheitliche Partei in Wahlsprengeln mit einst großem jüdischen Bevölkerungsanteil die besten Resultate. Mit einem Domestic Permit nach England gelangt, fand Thea Werner rasch Kontakt zum Austrian Centre in London, wo sie unter anderem als Köchin, Kellnerin und zeitweilige Sekretärin (also Mädchen für alles) des Exilkabaretts „Laterndl“ tätig war. 1940 heiratete sie einen Exil- und Gesinnungsgenossen, den Arzt Friedrich Scholl. Im Herbst 1946 kehrte sie mit ihrem Mann Friedrich nach Wien zurück. Thea war 20 Jahre lang Mitglied der Theodor Kramer Gesellschaft. Selbstredend hatte sie Kramer in London persönlich gekannt. Mitglied war sie aber vor allem um der Zeitschrift „Mit der AM 9.6.1942 „stein der Erinnerung“ vor dem Haus 1020 Wien, Stuwerstr. 21, für die von den Nationalsozialisten ermordeten Eltern Thea Scholls: Emilie Werner, geb. Hauser, 4.4.1883 Raknitz (Mähren) — 15.6.1942 Maly Trostinec; Rudolf Werner, Eisenbahnbeamter, 18.7.1879 Poreba Wilke (Schlesien) — 15.6.1942 Maly Trostinec. Auch die Eltern von Theas Mann Friedrich kamen ums Leben, nachdem sie sich noch nach Belgien gerettet hatten: Emil Scholl, Marinebeamter und Schriftsteller (4.1.1875 Wien — 30.5.1940), starb in Charleville-Mezieres in einem französischen Lazarett, nachdem er auf einem Internierungsmarsch von den belgischen in die französischen Ardennen am Straßenrand zusammengebrochen war; Agnes Scholl (geb. 4.8.1884 Weißenbach a.d. Triesting, NÖ) wurde am 15.1.1944 von Malines nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.