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historischer Umbruchszeiten kennt. Beispielsweise waren ihre Erfahrungen im freiwilligen „Exil“ jenseits des Atlantiks mit den 68ern der Berliner Studententage und mit dem Wissenschaftsbetrieb in Berlin und Wien sicher prägend. Enttäuschungen und die Notwendigkeit, sich immer wieder neu und umzuorientieren, haben sie gelehrt, „mit dem Kater umzugehen“. Sie hat sich so die Fähigkeit angeeignet, aus Umständen, die andere vielleicht in Frust, Alkohol oder ein „bürgerliches“ Durchschnittsleben getrieben hätten, die Lust am Umstoßen althergebrachter Denk- und Lebensgewohnheiten und am Experimentieren zu entwickeln. Das Umschauen gehört zu ihren Stärken. Und so hat sie sich auch wiederholt in vergangenen Epochen großer Auf- und Umbrüche umgeschaut und sie unter anderem mit ihren Werken über Varnhagen, die Humboldts und die Damen des Wiener Kongresses trefllich beschrieben und analysiert. Bei ihren wissenschaftlich fundierten Sichtungen überlieferten Materials hält sie auch immer lustvoll und spielerisch Ausschau nach innovativen Optionen, solches Material neu zusammenzusetzen, es von verschiedenen Seiten zu betrachten, in einem Kaleidoskop neu zu mixen. Dabei entdeckt sie Dinge, die bisher unentdeckt oder unterbelichtet waren, und setzt sie in neue Beziehungen zueinander. Das betrifft nicht nur historische Persönlichkeiten und Epochen, sondern auch sie selbst, ihre Herkunft und ihr eigenes Werden. In diesem Sinne hat sie sich beispielsweise in dem Buch über die kleine kommunistische Wiener Großfamilie („Beim Sichten der Erbschaft. Wiener Bilder für das Museum einer untergehenden Kultur“, 1994) mit dem Wesen dieses politischen Stammes auseinandergesetzt. Nicht ganz zur Freude einiger Betroffener, wie ich zu wissen meine. Unerschrockenheit ist aber eine der Eigenschaften Rosenstrauchs, die sie für diesen Widerstand würdigenden Preis qualifizieren. Mut und Wahrhaftigkeit auch im Umgang mit sich selbst hat sie unter anderem mit dem autobiographischen Werk „Die Grazie der Intellektuellen“ bewiesen, in dem sie sich mit einem ihrer alter egos, Natascha, auf Spurensuche nach dem eigenen Werden begibt. Da ist viel von Weglaufen, Widerstand gegen Einordnung, Widersprüchlichkeit, Chaos, Verletzlichkeit und Verletzung, Unangepasstheit, Fragezeichen, verpassten Gelegenheiten einer materiell gesicherteren Existenz die Rede. Und dies durchaus nicht mit Bedauern. Schon für das Kind Hazel war der Krampus ein Vorbild, sie akzeptierte selbst unter Druck, beispielsweise der besorgten Eltern, auch später kein „Drehbuch“ für ihr Leben. Augenzwinkernd sieht sie sich als „Expertin für Chaos“, die in einer zunehmend aus den Fugen geratenden und prekariatisierten Welt als Pfadfinderin und „unstete Intellektuelle“ „Erfahrungen mit dem Durcheinander“ einbringen und Ratschläge für „deviante Lebensstile“ erteilen kann. Mit Auswegen kennt sie sich aus. Auch mit Außenseitern kennt sie sich aus. Das ist ein weiteres "Ihema ihres Lebens und Schreibens. Aus den verschiedensten, meist grundlosen Gründen zu den verschiedensten Anlässen und Zeiten und auch heute noch und wieder Ausgegrenzte, Stigmatisierte, Verfolgte, Vertriebene, Ermordete beschäftigen sie — ebenso wie jene, die projizieren, ausgrenzen, stigmatisieren, vertreiben und morden, — und die Folgen all dessen bis in die „zu spät geborenen“ Generationen. Das ist etwa 'Ihema ihres Buches „Aus Nachbarn wurden Juden“ über den mörderischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich. Die Essaysammlung „Juden Narren Deutsche“ beginnt mit dem schönen Satz: „Es sollte ein 20 ZWISCHENWELT Buch über Narren werden und es ist eines über Deutsche und ihre Juden geworden.“ Darin nimmt sie nicht nur den noch immer existierenden Antisemitismus, sondern auch die Gedenk- und Bußrituale in Deutschland aufs Korn, den philosemitischen Kitsch, die „Zweitvernutzung“ toter Juden, deren Vertreibung und Ermordung nun zum sinnstiftenden Narrativ selbst für die EU als „Wertegemeinschaft“ wird. Mit solcher Skepsis entzieht sie sich ihrer eigenen Verwertung als schon namentlich erkennbares Mitglied der Kategorie „Opfer“ und zieht sich damit Unbehagen und Befremden zu. Hazel Rosenstrauch wollte, obwohl es ein Leichtes und einträglich gewesen wäre, nie „Legitimations- und Berufsjüdin“ werden. Auch dazu gehört viel Mut. Sicher würde auch nicht jede oder jeder von uns den Polizeipräsidenten des Landes vor Gericht bringen, wegen polizeilicher Übergriffe bei einer Demonstration, wie dies Rosenstrauch tat. Die heute marginalisierten Berufsnarren hatten, wie sie in einem Essay des Buchs über Juden Narren Deutsche berichtet, ihre Blütezeit um 1500, als die damalige Welt aus den Fugen geriet und sie als Wegweiser hoch im Kurs standen. Sie sympathisiert als schalkhaft-ernste Intellektuelle mit diesem formal ausgestorbenen Gewerbe. Mechanismen und Folgen von Ausgrenzung, und wie man sie überwinden kann, ist ferner Gegenstand ihres faszinierenden Buches über den böhmischen Henker Karl Huß. Hazel Rosenstrauch schätzt weder Ausgrenzung noch Eingrenzung. Sie ist vielmehr zeitlebens lustvoll-neugierig damit beschäftigt, in ihrem Privatleben und lehrend und schreibend, Grenzen zu überschreiten und andere dazu zu animieren, dies in Tat und Denken ebenfalls zu tun. Starre Abgrenzungen zwischen Kulturen und Disziplinen lehnt sie ab. Aber auch die Dichotomie Intellekt versus Emotion erscheint ihr zur Erfassung der Welt und zur eigenen Lebensgestaltung unfruchtbar und kontraproduktiv. Sie bekennt sich zu ihrer Unzugehörigkeit und zu ihren multiplen Identitäten (als Frau, Mutter, Jüdin, Österreicherin, Engländerin, Linke, Schriftstellerin, Soziologin etc.) und sieht die ewige Fahndungssuche nach einer, beispielsweise der deutschen, Identität mit Unbehagen. Ihren weiten und internationalen Bekanntenkreis versucht sie immer wieder zu gemeinsamen Grenzüberschreitungen zusammenzubringen, nach dem Muster der ihr vorbildlich erscheinenden „Salons“ früherer Zeiten. Ist Emigrans erblich?, fragt Rosenstrauch in einem Essay aus 1999. In mehr als einer Kultur aufgewachsen und viel herumgekommen, sowohl geographisch wie mental, sieht sie in diesem „Emigrans“ eine Disposition zu vernetztem Denken, aber auch die aus Notwendigkeit fließende Fähigkeit, sich „durchzubeißen“