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sie uns näherbringt in den bald dreißig Jahren, die seit seinem Erscheinen ihrer Erbschaftssichtung vergangen sind, ist nicht fürs Museum, sondern greift stets über ins Jetzt. Denn dieses Milieu war, bei allem Beklemmenden, das in ihm auch herrschte, etwa bei ihr zu Hause, „wo die Unerlaubtheit der Trauer herrschte“, und woraus sich Hazel bereits als 12-Jährige entreißen wollte, was sie als 18-Jährige schließlich tat: „hinaus in die Welt“: nach New York, Kanada, London, Berlin usw.; dieses Milieu repräsentierte, bei aller Rigidität und Verschrobenheit, auch eine Art „utopisches Gegenmodell“, „eine Schule (...) vom Erlernen der Regeln des Umgangs mit sich und anderen“, wie Hazel an ganz anderer Stelle, in ihrem Buch über Karl August Varnhagen, formuliert. Ja, dieses Milieu ist ein Schnörkel der Geschichte. Aber wie alles Utopische, das untergegangen ist, lebt auch dieses weiter, als nicht erfüllte Hoffnung vorangegangener Generationen, als Potentialität, ich zitiere Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“, als eine prinzipielle Hazel Rosenstrauch Thema Ambivalenz Gedanken über Rückkehr Vortrag bei der Veranstaltung zum Theodor Kramer Preis im Psychosozialen Zentrum ESRA, Wien, 10. September 2015 Mein Vater ist so schnell wie möglich, bereits Ende April 1946 von England nach Wien übersiedelt. Das war gar nicht so einfach. Man brauchte damals (soviel ich weiß) sowohl eine Ausreisegenehmigung der englischen Behörden wie Papiere für die Einreise in das eben erst wieder gegründete Land, das nun nicht mehr zum Tausendjährigen Reich gehörte. Für ihn wie für all jene, die sich als „politische Flüchtlinge“ sahen, die ins Exil gegangen sind, nicht in die Emigration, war diese Rückkehr selbstverständlich. Sie wollten das demokratische (oder vielleicht doch sozialistische) Österreich aufbauen und dachten im fernen England sogar, man würde sie brauchen. Und, wie er später in Gesprächen oft betonte: Sie waren jung und trauten sich alles zu. Der Unterschied zwischen politisch und rassisch verfolgt war wichtig, auch wenn die meisten „Politischen“ nach Definition der Nürnberger Gesetze jüdisch waren. Im heutigen Jargon würde man sagen: Die Politischen bezogen ihre Identität aus ihrer politischen Tätigkeit, sie waren aktiv - im Widerstand oder im Gastland, sie wussten, warum sie verfolgt wurden und versuchten, den Zufall ihrer jüdischen Herkunft zu ignorieren. Nicht selten mit haarsträubender Naivität und tödlichen Folgen. (Mein Vater war vor dem Einmarsch der Nazis Leiter des kommunistischen Jugendverbands im 9. Bezirk. Heute versteht das kaum jemand mehr, aber nach 1934 gab es gute Gründe, warum so viele junge Juden von der Schul zur KP überliefen.... Aber das ist ein andres "Ihema.) Der Konflikt zog sich durch meine Kindheit in den 50er und frühen 60er Jahren. Meine Eltern, Jahrgang 1918 (er) und 1921 (sie) hatten sich im Austrian Centre in London kennengelernt, im Wien des Ständestaats war mein Vater wegen Flugblättern, die bei einer Hausdurchsuchung gefunden wurden, im Gefängnis gesessen. In späteren Erzählungen wurde das romantisch überhöht, ein Abenteuer. Es führte immerhin dazu, dass er gewarnt war und 24 ZWISCHENWELT Befähigung eines Anders-Seinkönnens, eines Anders-Tunkönnens und Anders-Werdenkönnens. Christoph Reinprecht, 1957 in Linz geboren, arbeitete zuerst im Amerlinghaus, danach bis 1989 als Redakteur des „Wiener Tagebuch“. Er dissertierte über „Die Rolle des Erinnerns der gesellschaftlichen Transformation in Ost-Mitteleuropa. Eine empirische Studie zur Gedächtnissoziologie“ am Wiener Institut für Soziologie. Mit Forschungen zur Lebenssituation der ersten Generation der Arbeitsmigration habilitierte er sich für das Fach Soziologie. Er ist assoziierter Wissenschaftler am „Centre de Recherche sur Habitat“ in Paris und Mitglied des European Network of Housing Research, in dem er die Forschungsgruppe „Social Housing and Globalisation“ koordiniert. Er arbeitete auch wiederholt im Auftrag der Stadt Wien an Wiener Themen. rechtzeitig Hoh, über die grüne Grenze in die Tschechoslowakei, die damals sehr großzügig Flüchtlinge aufnahm. Für meine Mutter war es überhaupt nicht selbstverständlich, nach Wien „zurück“zugehen. Sie erinnerte sich nicht an heldenhafte politische Aktionen, sondern an Erniedrigung, Beschimpfungen, das für sie unverständliche, plötzlich veränderte Verhalten von Mitschülerinnen, Lehrern und Nachbarn. Sie war mit einem Kindertransport nach England entkommen, rassisch verfolgt. Auch sie war jung, am Kriegsende knapp 24. Und: Sie hatte, als die Frage der Rückkehr zur Debatte stand, zwei kleine Kinder, 1942 und 1945 geboren. Es waren zwar auch seine Kinder, aber für politische Aktivisten, zumal Kommunisten, war das zweitrangig, die Weltveränderung war wichtiger. Sie folgte ihrem Mann im Herbst 1946 nach, ihre Reise war mühsam, Züge gingen nicht, sie blieb sechs Tage in Paris hängen und wartete dort mit ihren zwei kleinen Kindern auf die Papiere. Übernachtung im Stundenhotel mit Wanzen gehört zu den Familienerzählungen. Auch dass ich — knapp 1 % -am Bett angebunden wurde, wenn sie zu den Behörden musste. Meine Schwester erzählt solche Geschichten, auch dass sie, damals noch keine fünf, auf mich aufpassen musste. Mein Vater holte uns mit einer Pferdekutsche vom noch zerstörten Wiener Westbahnhof ab. Wohnung hatte er noch nicht gefunden, wir kamen erst einmal — zu viert — im Kabinett eines Bekannten unter. In London lebte man nach dem Krieg auch nicht üppig, aber mit zwei kleinen Kindern 1946 nach Wien zu fahren, klingt in meinen Ohren — im Nachhinein — verrückt. Die Emigranten, zumal die jüdischen, waren bekanntlich nicht willkommen, sie wurden mit einer über den Verlust ihres Führers unglücklichen Bevölkerung konfrontiert; Essen war schwer beschaffbar, Arbeit und Unterkunft - ein riesiges Problem für eine vierköpfige Familie, die sieben Jahre weg gewesen war und keine Verwandten mehr hatte. Wenn ich mir vorstelle, dass es damals weder Plastikwindeln noch Waschmaschinen gegeben hat, ersterbe ich vor Bewunderung für diesen Idealismus bzw. diese Verzweiflungstat.