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Antwort und die Situationen ändern sich ständig. Die Probleme des 21. Jahrhunderts lassen sich nicht bewältigen, wenn die identitätssuchenden Österreicher, Deutschen, Engländer, Dänen, Italiener, Griechen oder auch Türken und Syrer nicht lernen, mit Ambivalenzen umzugehen, Widersprüche auszuhalten und pragmatische Lösungen zu finden. Ich wollte mit einem Hohelied auf ein Jonglieren zwischen englischem common sense und Hazel Rosenstrauch Unjüdische Juden Vortrag bei der Veranstaltung zum Theodor Kramer Preis im AdalbertStifter-Haus, Linz, 17. September 2015 „Unjüdische Juden“ ist oder war zumindest erst einmal ein Schimpfwort. Es wurde von den Hütern der jüdischen Gesetze benutzt, um Menschen zu bezeichnen, die ihnen nicht jüdisch genug waren. Im 19. Jahrhundert waren Mitglieder der Reformgemeinden für die Orthodoxen unjüdische Juden, in der Weimarer Republik sprach man von Juden ohne Judentum. All jene Juden, die sich an die Kultur ihrer Umgebung, sei sie deutsch, österreichisch oder russisch-sozialistisch, angepasst hatten, für Juden die gar nicht oder nur die berühmten drei Tage in die Synagoge gingen (es gibt dafür den Ausdruck Drei-Tages-Juden), die sich als Rechtsanwälte, Bankangestellte oder Akademiker solange der deutschen Kultur zugehörig fühlten, bis sie von ihren Nachbarn, Vorgesetzten, Untergebenen und Kollegen rausgeschmissen und bespuckt wurden. Die Zuschreibung „unjüdisch“ wurde je nach Zeit und Umständen unterschiedlich benutzt. Anfang des 19. Jahrhunderts, als sich Juden in hoher Zahl taufen ließen (die Taufe war damals, wie Heinrich Heine das nannte, das Entreebillet zur deutschen Kultur), fürchteten viele Rabbiner, das Judentum würde ganz verschwinden. Als Ende des 19. Jahrhunderts der Zionismus mehr und mehr Anhänger gewann, galt für religiöse Juden aber auch für Assimilierte jede Form von nationalem Chauvinismus als „unjüdisch“. Wie ja heute in Israel gerade orthodoxe Juden einen jüdischen Staat unjüdisch finden, schließlich ist der Messias noch nicht gekommen. In den 1920er Jahren entstand unter assimilierten Juden die romantische Mode, die orientalischen und osteuropäischen Juden für authentisch zu erklären, sie erschienen manchem Literaten oder Schauspieler als echt im Unterschied zu den Bourgeois, die mit Anzügen und Krawatte herumliefen. Unjüdisch war damals auch noch eine Armee, Einfalt galt als unjüdisch und Kenner der Judaistik haben bewiesen, dass „der ewige Jude“ eine durch und durch unjüdische Gestalt sei. Kurt Tucholsky, der nun wirklich in die deutsche Kultur integriert und keineswegs gottesfürchtig war, hat kurz vor seinem Selbstmord in Schweden den „Deutschen jüdischen Glaubens“ oder eben nicht mehr Glaubens vorgeworfen, dass sie sich auch noch im Ghetto als Deutsche fühlen: „Man sperrt sie ein; man pfercht sie in Judentheater mit vier gelben Flecken vorn und hinten, und sie haben (wie ich das höre!) nur einen Ehrgeiz: ‚Nun werden wir ihnen mal zeigen, dass wir das bessere Iheater haben!““ Er spielte damit auf die „Jüdischen Kulturbünde“ an, die Juden unter den Nazis noch erlaubten, Theater zu spielen oder zu singen, 26 _ ZWISCHENWELT österreichischem „sowohl entweder als auch oder“ schließen... und dann habe ich mit einem Wiener Freund telefoniert, der mir von den rassistischen, antidemokratischen Parolen gut gekleideter Politiker (auch Politikerinnen) erzählt hat, die Verunsicherungen für sich und ihre Karriere ausnutzen. In solchen Fällen bin ich für Eindeutigkeit. sofern nur Juden für Juden auftraten. Tucholsky warf ihnen vor, dass sie immer noch die deutsche Kultur liebten und zeigen wollten, dass sie die besseren Verwalter deutscher Traditionen seien. „Statt einer Selbstkritik und Selbsteinkehr“, schreibt Tucholsky, „sehe ich etwas von ‚Wir sind das bessere Deutschland‘ ... und solchen Unsinn. Aber ein Land ist nicht nur das, was estut-es ist auch das, was es verträgt, was es duldet.“ (Kurt Tucholsky: Brief an Arnold Zweig, 15.12.1935. Veröffentlicht zusammen mit der Entgegnung Arnold Zweigs in: Die neue Weltbühne, Nr. 6, 6.2.1936, S. 160-165). Vor diesem Hintergrund sprach man von der unglücklichen Liebesgeschichte zwischen den deutschen Juden und den christlichen oder auch unchristlichen Nachbarn (es ist schwer mit den Etiketten umzugehen, denn der Gegensatz hieß jüdisch versus arisch, was aber wäre heute das richtige Wort? Arisch will ich natürlich nicht verwenden und christlich sind die Gemeinten nur selten). Wenn man noch weiter in der Geschichte zurückgeht, erfährt man, dass im 16. und 17. Jahrhundert die schwäbischen, elsässischen, böhmischen und galizischen Juden ganz unterschiedliche Bräuche hatten und die jeweils anderen, wenn sie durch Auswanderung auf sie stießen, als nicht richtig jüdisch empfanden. Die Chassiden des 18. Jahrhunderts legten sich eine Tracht zu, die vom polnischen Adelskostüm abgeschaut war, insofern war der Kaftan eine polnische Kleidung. Als osteuropäische Juden (und selbstverständlich auch Jüdinnen, mit Schaitel und vielen Kindern) gen Westen wanderten, nannten die mittlerweile assimilierten „deutschen Juden“ oder Deutsche jüdischen Glaubens, wie sie sich nannten, diese Neuankömmlinge ein abergläubisches, fanatisches und dreckiges „Gesindel“ und wollten mit ihnen nicht in einen Topf geworfen werden. Das galt dann als jüdischer Antisemitismus, gleich danach kommt der „jüdische Selbsthass“ - es gibt eine breite Literatur, in der die Beziehung von Juden unterschiedlicher Kultur beschrieben wird. Der eingedeutschte jüdische Mittelstand war in den Augen der „echten Gläubigen“, die ihre jiddische Sprache, strengen Regeln (von denen es im Judentum schr schr viele gibt) und Kleidung mitbrachten, „unjüdisch“, viel zu brav, arrogant, diszipliniert und „beinahe christlich“. Wien war in der Zwischenkriegszeit sozialdemokratisch geprägt, und junge Menschen, deren Eltern noch fromm oder wenigstens gläubig waren, traten einer der vielen Organisationen bei, die für Demokratie und Gleichberechtigung, gegen Armut und Vorurteile kämpften. Manche verließen die katholische Kirche, andere gingen nicht mehr in die Synagoge. Sie waren Freidenker oder Agnostiker, Religion war ihnen nicht wichtig. Leute wie mein Vater waren so unjüdisch wie seine Genossen unkatholisch waren. Was nicht ausschloss, dass sie in einem jüdischen oder