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Talmud auskennen. Ich denke an die Auseinandersetzung mit dem jungen Mann, der einen Schriftsteller, der aus guten Gründen sein Judentum nie hervorgehoben, cher verschwiegen hat, in seiner akademischen Arbeit unter jüdischen Gesichtspunkten analysiert und beurteilt hat und gar nicht verstand, wieso mich das aufregt. Wenn ich das Radio aufdrehe und wieder von einem Festival für jiddische Kultur berichtet wird oder ein neuer Bekannter mir sein Buch über einen Filmstar in der Einsamkeit des Exils empfiehlt, frage ich mich, was die Leute umtreibt. Und habe gewisse Hemmungen, ob ich den syrischen Flüchtlingen muslimischen Glaubens Deutsch beibringen soll und wie sie reagieren würden, wenn sie erführen, dass ihre Lehrerin „Jüdin“ ist. Obwohl es ein interessantes Experiment wäre — für sie und für mich. Mit dem Etikett „Juden“ lässt sich vieles machen. Die „unjüdischen Juden“ sind jedenfalls jüdischer als die Konvertiten, die 100%ig und nicht selten im Ton von Oberlehrern alles über das Judentum wissen und mir ungebeten erklären, was jüdisch sei. Auch jüdischer als jene Philosemiten, die mir zu jüdischen Feiertagen — die ich z.T. gar nicht kenne, Gratulationsmails schicken, gern mit Davidstern — der im Mittelalter noch in Kirchen und Moscheen verwendet wurde und inzwischen mehr politisches als religidses Symbol ist. Außerdem habe ich meine Meinung zu dem Thema mehrmals geändert. Als ich vor bald 40 Jahren gebeten wurde, einen Text für die Ausstellung über den Fotografen Abraham Pisarek zu schreiben, legte ich Wert darauf, dass nicht die Kinder mit den traurigen Augen und die Juden mit Käppi und Pejes im Vordergrund stehen und setzte auch durch, dass ein Gedicht von Erich Fried abgedruckt wurde: Hört auf, sie immer Miriam und Rachel und Sulamith und Aron und David zu nennen in eueren Trauerworten! Sie haben auch Anna geheifsen und Maria und Margarete und Helmut und Siegfried: Sie haben geheifsen wie ihr heifst Ihr sollt sie euch nicht so anders denken, wenn ihr von ihrem Andenken redet, als sähet ihr sie alle mit schwarzem Kraushaar und mit gebogenen Nasen: Sie waren auch blond und sie hatten auch blaue Augen Sie waren wie ihr seid. Der einzige Unterschied war der Stern den sie tragen mufsten und was man ihnen getan hat: Sie starben wie alle Menschen sterben wenn man sie tötet nur sind nicht alle Menschen in Gaskammern gestorben Hört auf, aus ihnen ein fremdes Zeichen zu machen! Sie waren nicht nur wie ihr 28 — ZWISCHENWELT sie waren ein Teil von euch: wer Menschen tötet tötet immer seinesgleichen. Jeder der sie ermordet tötet sich selbst (E. Fried: Diese Toten, „Im Gedenken an die Nacht der Judenverfolgung ... in Deutschland am 9./10. November 1938“, 1983). Der Erfolg der Ausstellung war dann auch, dass die Besucher der Ausstellung erschrocken feststellten: Die sieht ja aus wie meine Großmutter, es hätte auch sie treffen können. Die traurige Seite war, dass für Ruth Gross, die Tochter Abraham Pisareks, von der wir die Bilder hatten, das ganze Buch und die Darstellung ihres Vaters zu unjüdisch war. Es waren andere Zeiten und mittlerweile betone ich manchmal gerne einige Unterschiede. Zum Beispiel, wenn Leute, die familiengeschichtlich nichts mit Verfolgung, Ausgrenzung, Vorurteilen usw. zu tun haben, in jüdische Identitäten schlüpfen. Es sind auch manche darunter, die sich mit geborgten Vorfahren vor der Beschäftigung mit der eigenen Geschichte drücken. Oder wenn, wie in den Ausstellungen des Berliner Jüdischen Museums, man sich bemüht, primär die „Normalität“ zu zeigen. Wenn Juden nur noch wie alle anderen dargestellt werden, dann juckt es mich, die (gewiss zweifelhafte) These zu vertreten, dass zum Judentum immer auch die Rebellion gehört hat. Wenn ich den Ausdruck „unjüdische Juden“ für mich benutze, so will ich damit eine Geschichte und Tradition am Leben halten, die untergeht, seit Juden und alles Jüdische geliebt werden und Klischees wieder auferstehen, die sich zwischen Folklore und umgedrehten Antisemitismus bewegen. Inzwischen nicht mehr negativ, sondern liebevoll, genauer gesagt, gut gemeint werden jüdische Feste mit Klezmer-Musik organisiert, Filme und Bücher von Juden oder ... wiesagt man statt „Arier“?, also Nicht-Juden auf den Markt geworfen, in denen die speziell jüdischen Neurosen, das überdurchschnittliche Talent, ein angeblich tolles Familienleben usw. durchmischt mit ein bisserl Holocaust präsentiert werden. Von Jean-Paul Sartre stammt das Diktum: der Antisemitismus mache den Juden. Was auf jene gemünzt war, die in Frankreich, im Land der Emanzipation und der Dreyfuß-Affäre lebten. Für die 4. Generation „nach der Vertreibung und Vernichtung der Juden“, also die heutige Jugend, sind die erst religiös und dann rassisch definierten Unterschiede fast verschwunden. Wenn die „jüdischen Mitbürger“ wie das so schön heißt (weil sie offenbar doch keine Bürger sind) nicht durch Kleidung, Käppi, Schläfenlocken erkennbar sind, merkt kaum mehr jemand, ob der oder die jüdisch sind. Nur entsteht jetzt (ich weiß es nur von deutschen Schulen und nicht von österreichischen) ein neuer, der muslimische Antisemitismus. Im Sinne von Sartre wäre damit das Überleben der Juden wieder gesichert. Die nächste Frage wäre dann, ob es untürkische Türken, unsyrische Syrer etc. gibt. Das Schimpfwort, wie ich es mir anziche, hat einen großen Vorteil. Für die Nationalsozialisten gab es keine unjüdischen Juden. Wenn jemand nur einen jüdischen Großelternteil hatte, wurde er zwar nicht gleich deportiert, aber er gehörte nicht zu jener edlen Rasse von Übermenschen, zu der sich Schönheiten wie Göring und Hitler zählten. Für die Nazis gab es Halb- und Vierteljuden, und ich staune immer wieder, mit welcher Selbstverständlichkeit diese Begriffe heute — gut gemeint — immer noch verwendet werden.