OCR
AUF DER FLUCHT Roberto Kalmar Die Situation in Wien 1938 Als im März 1938 Österreichs Existenz durch den Einmarsch der reichsdeutschen Truppen beendet wurde, musste jeder Betroffene erkennen, dass die Bedrohung schr groß war. Als Ergebnis des Anschlusses waren den Nazis weitere 190 000 Juden in die Hände gefallen. Die Verfolgung in Österreich und insbesondere in Wien ging über die im Reich hinaus. Die öffentliche Demütigung war krasser und sadistischer, die Enteignung besser organisiert, die Zwangsemigration rascher. Die Österreicher (...) dürsteten anscheinend mehr nach antijüdischen Aktionen als die Bürger des nunmehrigen Altreichs. Die Gewalttätigkeiten hatten bereits begonnen, bevor die Wehrmacht die Grenzen überschritten hatte.‘ Jene Menschen, die später einmal in Bolivien ankamen, lebten ihr halbwegs normales Leben in Wien und Breslau. Im Folgenden nun die Beschreibung des Lebens einiger Menschen, die das Schicksal nach Bolivien verschlagen sollte. Ernst (Ernesto) Otto Allerhand, 1924 geboren, war der Sohn eines erfolgreichen Rechtsanwaltes und wohnte in der Albertgasse. Er besuchte die Schule im 8. Wiener Bezirk. Über Hamburg konnte die Familie nach Bolivien entkommen. Egon Schwarz wurde 1922 in Wien als Sohn eines Kaufmanns geboren und besuchte bis zu seinem Ausschluss im April 1938 das Gymnasium. Die Familie reiste erst nach Preßburg, dann nach Prag. Von dort gelangte sie mithilfe des jüdischen Hilfsvereins HICEM über Paris nach Bolivien. Die Verwandten kamen zum Großteil in den Vernichtungslagern um. Ludwig Popper wurde 1904 geboren und hatte ab 1938 keine Chance mehr, als Arzt in Österreich tätig zu sein. Paul Simko, geboren 1927, war 1937/38 in das Gymnasium gekommen. Am Tag nach dem „Anschluss“ wurde er wie alle anderen jüdischen Schüler des Gymnasiums verwiesen und in eine „Judenschule“ geschickt. Der Vater, ein Einzelhandelskaufmann, suchte verzweifelt nach einer Ausreisemöglichkeit und konnte schließlich Visa für Bolivien kaufen. Heinz „Rique“ Salzmann wurde 1923 in Breslau geboren. Sein Vater „fiel dem Antisemitismus zum Opfer“. So beschloss seine Mutter, Deutschland schnellstmöglich zu verlassen. Das einzige Land, das damals Einwanderer akzeptierte, war Bolivien. Georg (von Eisler-) Terramare war ein österreichischer Schriftsteller und Regisseur. 1889 geboren, wurde er als Schriftsteller im neoromantischen Kreis um Hugo von Hofmannsthal bekannt. Er inszenierte bei den Schotten in Wien, in Bern, am Hamburger Schauspielhaus und auf Einladung von Anton Wildgans am Burgtheater. Dann übernahm er das Troppauer Stadttheater und arbeitete am Deutschen Theater Prag. Nach der deutschen Besetzung emigrierte er (er war Katholik jüdischer Herkunft) mit seiner Frau Erna Terrel nach Bolivien. Erna Terrel feierte erste Erfolge bei den Schotten in Wien und wurde nach Basel engagiert. In Wien wurde sie bekannt, als sie in „Essig und Öl“ die Rolle der erkrankten Käthe Gold als Partnerin von Hans Moser übernahm. Am Deutschen Theater Prag feierte sie große Erfolge. Fritz Kalmar wurde im Dezember 1911 in Wien geboren. Nach der Matura 1930 im „Wasagymnasium“ entschloss sich Fritz Rechtswissenschaften zu studieren und promovierte im März 1935. Nach 13 Monaten der vorgeschriebenen Gerichtspraxis als Schriftführer bekam er eine Anstellung als Rechtsanwaltsanwärter. In der Zeit von Bundeskanzler Schuschnigg war es für jemanden, der einer jüdischen Familie entstammte, schon nicht mehr möglich, jeden Beruf zu ergreifen. Die Machtergreifung durch die Nazis im März 1938 setzte seiner juristischen Laufbahn ein jähes Ende. Er war gezwungen in der Hausverwaltung seines Onkels Siegfried Hönich auszuhelfen. Ernst Kalmar, 1913 geboren, betrieb nach dem Besuch der Hotelfachschule das Café Mignon in der Zirkusgasse in WienLeopoldstadt. Über Vermittlung von Warner Brothers, deren Wiener Filiale Schwiegervater Simmenauer leitete, bekam er ein Visum für Peru, das allerdings gefälscht war. Heinz Kalmar, fünf Jahre jünger als Ernst, arbeitete nach der Reifeprüfung als Buchhalter. Ottilie Rosenfeld, die Mutter der drei letztgenannten, war 1882 in Nagy Kostolany (im heutigen Ungarn) geboren worden und hatte Max Kalmar in Wien geheiratet. Als dieser 1927 verstarb, musste sie sich und ihre drei Söhne in einer wirtschaftlich sehr schwierigen Zeit durchbringen. Mia Lachs, Tochter eines Bankbeamten und spätere Ehefrau von Heinz, konnte als zehnjähriges Mädchen mit ihren Eltern Eduard und Lola über Italien und Chile nach Bolivien ausreisen. Andere Mitglieder der Familie Kalmar (sowie der verwandten Familien Rosenfeld und Wodak) hatten sehr unterschiedliche Schicksale. Manche konnten ausreisen und wurden in Kanada, den USA, Haiti, Brasilien, England und Australien aufgenommen. Manche hatte nicht so viel Glück: Ihr Leben endete in Theresienstadt, Auschwitz, Treblinka und Riga. Von anderen hat man nie wieder gehört. Der Weg nach Bolivien Die jüdische Bevölkerung in Bolivien war so gut wie nicht existent. Während in anderen Ländern die Ansiedlung jüdischer Landbevölkerung zumindest vorübergehend erfolgreich war, lebten in Bolivien höchstens 600 Juden.? Die überraschende Flüchtlingspolitik Boliviens lag in der besonderen politischen Konstellation in dem damals rund drei Millionen Einwohner zählenden Land begründet, das noch ganz im Zeichen eines verheerenden Krieges gegen das Nachbarland Paraguay stand. Nach drei Jahren war er 1935 mit einer Niederlage Boliviens zu Ende gegangen. In dem bewaffneten Konflikt um die kaum bevölkerte Chaco-Region, wo erhebliche Rohstoffvorkommen vermutet Dezember 2015 29