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Gert Eisenbürger Flüchtlinge sind selten erwünscht. Fast immer werden sie als Bedrohung empfunden. Den gängigsten Vorurteilen nach fallen sie den Gemeinwesen in ihren Zufluchtsländern zur Last und schnappen deren „rechtmäßigen“ BewohnerInnen die Arbeitsplätze weg. Mit solchen Argumenten schotten sich die meisten Staaten ab, wenn Diktaturen, kriegerische Auseinandersetzungen, bewaffnete Akteure oder gravierende Umweltprobleme Menschen massenhaft zwingen, ihre Heimatländer zu verlassen. Nur ganz selten wird registriert, dass Flüchtlinge Menschen sind, die Fähigkeiten, Erfahrungen und Kreativität mitbringen, von denen die in den Aufnahmeländern Geborenen und Sozialisierten lernen und profitieren können. Von einem Land, das seine Grenzen in einem kritischen Moment nicht dicht gemacht hat, und von einem Flüchdling, der sich um das kulturelle Leben eben dieses Landes verdient gemacht, soll im Folgenden berichtet werden. Das Land, von dem nunmehr die Rede sein wird, ist Bolivien. Dessen Regierung bot am 9. Juni 1938 in einem Dekret potentiellen Einwanderern an, sich ohne weitere Auflagen in der südamerikanischen Republik niederzulassen, wenn sie dort in der Erschließung landwirtschaftlicher Flächen arbeiten wollten. Dass Staaten „Siedler“ einluden, tatsächlich oder vermeintlich unbewohntes Land (oft lebten dort seit Generationen indigene Gemeinschaften) zu „kolonisieren“, war an sich nichts Besonderes, sondern in verschiedenen südamerikanischen Ländern Praxis. Fast sensationell war aber der Passus, dass dieses Angebot ausdrücklich auch für Juden und Jüdinnen galt. In dem Maße, in dem sich im Laufe der 1930er Jahre die antisemitischen Repressalien in Nazideutschland und dann auch Österreich verschärften und von Diskriminierung in offenen Terror übergingen, so dass Zehntausende jüdische Menschen verzweifelt nach sicheren Ländern suchten, in die sie fliehen konnten, schränkten viele Staaten die Zuzugsmöglichkeiten für Juden und Jüdinnen ein, wenn sie sie nicht überhaupt völlig unmöglich machten. Auch klassische Einwanderungsländer wie die USA oder Argentinien erschwerten 1938/39 jüdischen Asylsuchenden die Einreise oder begrenzten sie auf relativ niedrige Kontingente. So verbreitete sich Mitte 1938 in den jüdischen Organisationen und Gemeinden rasch die Kunde, dass für Bolivien, dass bis dahin in den Überlegungen der meisten Emigrationswilligen sicher keine Rolle gespielt hatte, vergleichsweise einfach Einreisevisa zu bekommen waren und die Konsulate nicht überprüften, ob die AntragstellerInnen tatsächlich über eine landwirtschaftliche Ausbildung oder entsprechende berufliche Erfahrungen verfügten. Nach den Novemberpogromen von 1938 schnellte die Zahl der Visaanträge in den bolivianischen Vertretungen in Deutschland und seinen Nachbarstaaten rasant in die Höhe. ' Bolivien war auf die Zuwanderung von Asylsuchenden überhaupt nicht vorbereitet. Es war das ärmste Land Südamerikas, das zudem durch die Folgen des Krieges gegen Paraguay wirtschaftlich ausgeblutet war. Es gab nur einige wenige kleine Städte, die überhaupt über eine minimale Infrastruktur für ankommende 36 ZWISCHENWELT Flüchtlinge, wie etwa Pensionen, zu mietende Unterkünfte, Beratungsangebote usw., verfügten. Der bolivianische Politikwissenschaftler Leön E. Bieber, selbst Sohn deutsch-jüdischer Flüchtlinge, hat mit seinem Buch „Jüdisches Leben in Bolivien. Die Einwanderungswelle 1938-1940“ eine grundlegende Studie über die damalige Fluchtbewegung vorgelegt. Darin berichtet er, der Hohe Kommissar für Flüchtlinge des Völkerbundes, James G. McDonald, sei zwischen März und Mai 1935 durch Südamerika gereist, um zu schen, welche Aufnahmekapazitäten für jüdische Einwanderer aus Europa in den verschiedenen Republiken existierten. Bolivien habe er erst gar nicht besucht, weil nach seinen Informationen das nach dem Chaco-Krieg wirtschaftlich daniederliegende Land ohnehin nicht in der Lage sein würde, jüdische Flüchtlinge zu beherbergen. Bieber schätzt auf Basis der zugänglichen Quellen (Daten der Immigrationsbehörden, Archive der jüdischen Gemeinden u.a.), dass zwischen 1938 und 1940 sechs- bis achttausend Juden und Jüdinnen aus Deutschland, Österreich und - in deutlich geringerem Umfang — aus Osteuropa Zuflucht in Bolivien fanden. Am 23. August 1939 starb Germän Busch, Präsident der Militärregierung. Die offizielle Version der Todesursache ist Suizid, sie wurde aber vielfach angezweifelt. Jedenfalls kam es unter seinen Nachfolgern Carlos Quintanilla (1939-40) und Enrique Pefiaranda del Castillo (1940-43) zu einer — vorübergehenden — Restauration der alten soziopolitischen Strukturen. Bereits Ende Mai 1939, also noch zu Lebzeiten Buschs, hatte die Regierung ein Dekret erlassen, das die landwirtschaftliche Qualifikation dezidiert als Bedingung einer Immigration hervorhob. Am 16. August 1939 wurde die Einwanderung auf Ausnahmefälle begrenzt und in einem weiteren Dekret vom 3. April 1940 weitgehend gestoppt. Danach erteilten bolivianische Vertretungen in Europa kaum noch Visa an jüdische AntragstellerInnen. Für diesen Umschwung in der Einwanderungspolitik macht Leön E. Bieber zum einen eine wachsende antisemitische Stimmungsmache bestimmter Medien und Berufsverbände gegen die Flüchtlinge verantwortlich. Zum anderen hätten sich die Erwartungen von Regierungskreisen bezüglich des Zuflusses von Kapital durch den Zuzug von landwirtschaftlichen und technischen Fachkräften nicht erfüllt. Generell dürften Quintanilla und die ihn unterstützenden traditionellen Machtgruppen weniger Interesse an einer Modernisierung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen gehabt haben. Trotz allem war das arme Bolivien durch die großzügige Visaerteilung zwischen Mai 1938 und April 1940 nach den wirtschaftlich weitaus potenteren Einwanderungsländern Argentinien, Brasilien und Chile die lateinamerikanische Republik, die den meisten verfolgten Juden und Jüdinnen aus Europa Zuflucht gewährte, deutlich mehr als größere Staaten wie Kolumbien, Venezuela, Peru oder auch Mexiko, das in Deutschland als wichtigstes Exilland wahrgenommen wird, weil dort eine Reihe bekannter Intellektueller Aufnahme fand. Eine ähnliche Anzahl von Flüchtlingen wie nach Bolivien kamen auch ins kleine Uruguay, das eine