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Im April 1944 erhielt Erich Eisner auf Initiative von Mario Esstensoro, der neben seiner Tätigkeit als Pianist und Musikpädagoge immer auch politisch tätig war und über einigen Einfluss verfügte, die Einladung, den Aufbau eines nationalen Symphonieorchesters zu koordinieren und dessen Leitung zu übernehmen. Außerdem sollte er am Konservatorium von La Paz bolivianische Musiker ausbilden. Ähnlich wie Mustafa Kemal (Atatürk) in der Türkei sahen auch Villarroel und dessen politisches Umfeld in der Aufnahme europäischer Musiktraditionen ins nationale Musikleben offensichtlich einen Hebel, die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Modernisierung voranzutreiben. Kemal hatte 1935 den in Nazideutschland zunehmend diffamierten Komponisten Paul Hindemith beauftragt, am Aufbau des Nationalen Konservatoriums in Ankara mitzuwirken. Für seine neue Aufgabe siedelte Erich Eisner von Sucre nach La Paz über, wo der Direktor des Nationalen Radioorchesters, Jose Maria Velasco Maidana, seit 1940 das kammermusikalisch besetzte Orquesta Nacional de Conciertos aufgebaut hatte, ein anspruchsvolles Amateurorchester, dessen Mitglieder überwiegend jüdische EmigrantInnen aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei waren. Sie bildeten zusammen mit bolivianischen MusikerInnen den Stamm des neuen Symphonieorchesters. Doch bevor dieses einen regulären Konzertbetrieb aufnehmen konnte, bedurfte es einer dreijährigen Aufbauzeit, in denen MusikerInnen mit einem sehr unterschiedlichen Hintergrund und Niveau integriert und aus- bzw. weitergebildet, dazu Instrumente und Partituren beschafft und für die vorhandene Besetzung arrangiert werden mussten. Tyler Bridges bezeichnet die Bedingungen, unter denen die Musiker arbeiteten, in einem Artikel als „spartanisch“, was zu glauben nicht schwer fällt, da kaum davon ausgegangen werden kann, dass ein im Aufbau befindliches Symphonieorchester Mitte der vierziger Jahre in Bolivien in irgendeiner Hinsicht üppig ausgestattet war. Am 18. Juli 1947 trat das Orquesta Sinfénica Nacional mit seinem ersten Konzert an die Öffentlichkeit. Dabei präsentierte man die Ouvertüre der „Meistersinger“ von Richard Wagner — für ein Orchester, das von einem jüdischen Dirigenten geleitet und zu einem beträchtlichen Teil aus jüdischen Musikern bestand, gerade zwei Jahre nach der Zerschlagung des Nazi-Faschismus eine äußerst überraschende Wahl. Zur Aufführung kamen darüber hinaus die fünfte Symphonie von Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840 — 1893) und die Schauspielmusik „La Coronilla“ des bolivianischen Komponisten Tedfilo Vargas Candia (1866 — 1961). Diese Zusammenstellung blieb auch in den folgenden neun Jahren, in denen Erich Eisner das Orquesta Sinfénica Nacional leitete, künstlerisches Programm: Die Präsentation europäischer Musik der Klassik und Romantik wurde häufig kombiniert mit der Vorstellung bolivianischer und lateinamerikanischer Kompositionen. Von 1947 bis 1956 brachte das Orchester in über 200 Konzerten Werke fast aller wichtigen europäischen, bolivianischen und lateinamerikanischen Komponisten zur Aufführung. Viele Partituren wurden aus Argentinien oder den Vereinigten Staaten beschafft, in der Regel arbeitete sie Eisner für die Größe und Besetzung des Orquesta Sinfonica Nacional um. Eher untypisch fiir den Dirigenten eines Symphonieorchesters und daher umso verdienstvoller, leitete Erich Eisner auch das Ensemble Orquesta Tipica Municipal von La Paz, dessen Repertoire vor allem bolivianische Folklore umfasste. Damit brachte Eisner zweifellos seine Wertschatzung der indigenen volksmusikalischen Traditionen Boliviens zum Ausdruck. 1946 nahm Erich Eisner die bolivianische Staatsbiirgerschaft an. Die Regierung Boliviens ernannte ihn 1952 wegen seiner Verdienste um das nationale Musikleben zum Professor. Auch die Bundesrepublik wiirdigte das Wirken des Dirigenten und Komponisten. Der bundesdeutsche Botschafter in La Paz, Werner Gregor, der sich weitaus starker als die meisten Diplomaten der jungen Bonner Republik um Kontakte zu den nach 1933 aus Deutschland Vertriebenen bemiihte und sie zu den Veranstaltungen der Botschaft einlud, überreichte Erich Eisner im Auftrag des Bundespräsidenten Theodor Heuss im Januar 1956 das Bundesverdienstkreuz. Am 2. März 1956 starb Erich Eisner, erst 59-jährig, in La Paz. Das Orquesta Sinfonica Nacional ist bis heute eine feste Größe im kulturellen Leben Boliviens. Mit eigenen Räumlichkeiten und einem ambitionierten Konzertprogramm ist es ganz in der Tradition seines Gründers der Ort in La Paz, wo regelmäßig bedeutende Werke der europäischen und lateinamerikanischen Kunstmusik erklingen. Der vorliegende Text ist eine vom Autor leicht bearbeitete Version eines Aufsatzes, erschienen in dem Buch „Die subversive Kraft der Menschenrechte — Rainer Huhle zum radikalen Jubiläum“ (hg. von Niko Huhle und Teresa Huhle. Oldenburg: Paulo Freire Verlag 2015, 377-390). 1 An dieser Stelle wurde der Originalbeitrag Gert Eisenbürgers etwas gekürzt, denn Roberto Kalmar erläutert in diesem Heft bereits eingehend die überraschende Flüchtlingspolitik Boliviens und die besondere politische Konstellation im Land während der 1930er-Jahre. Anm.d.Redaktion Literatur Akademie der Künste (Hg.): Geschlossene Vorstellung. Der Jüdische Kulturbund in Deutschland 1933-1941. Berlin 1992. (Publikation zur Ausstellung vom 27. Januar bis 26. April 1992 in der Akademie der Künste, Berlin). Leön E. Bieber: Jüdisches Leben in Bolivien. Die Einwanderungswelle 19361940. Berlin 2012. Stefan Gurtner: Guttentag. Das Leben des jüdischen Verlegers Werner Guttentag zwischen Deutschland und Bolivien, Lich (Hessen) 2012. Julius H. Krizsan: Fluchtziel Bolivien 1933 — 1945. Eine Materialsammlung. Norderstedt 2009. H. Eric Mautner: Don Äskulap. Arzt in den Pampas. Stuttgart 1962. Münchener Stadtmuseum (Hg.): Die gefesselte Muse. Das Marionettentheater im Jüdischen Kulturbund München. Text von Waldemar Bonard. München 1994. (Begleitband zur Ausstellung vom 29. April bis 3. Oktober 1994 im Puppentheatermuseum des Münchener Stadtmuseums). Erwin Rath: Glück im Unglück. Von Österreich durch Rumänien, England, Bolivien und Argentinien nach Israel. Konstanz 2006. Egon Schwarz: Keine Zeit für Eichendorff. Chronik unfreiwilliger Wanderjahre. Frankfurt/M. 1992. Renata Schwarz: Von Mainz nach La Paz. Kindheit eines jüdischen Mädchens in Deutschland und Flucht nach Bolivien. Mainz 2007. Leo Spitzer: Hotel Bolivia. Auf den Spuren der Erinnerung an eine Zuflucht vor dem Nationalsozialismus. Wien 2003. Patrik von zur Mühlen: Fluchtziel Lateinamerika. Die deutsche Emigration 1933-45. Politische Aktivitäten und soziokulturelle Integration. Bonn 1988. Webartikel Aguilar, Carlos: Resena Historia Orquesta Sinfönica Nacional, primera parte, auf: , 01.12.2014. Dezember 2015 39