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Schnee braucht man, vor allem, wenn bombardiert wird. Im Traum konnte ich mir vorstellen, wie große Bomben aus dem Himmel fallen. Weiße kalte Schneebomben gegen heiße Industriebomben. So was ist für Gott ganz einfach. Einfacher als Froschregen. Er schickt alles aus dem Himmel. In meinem Traum schmelzen alle Kugeln. Alles schwimmt dann. Alles. Und fließt in die internationalen Gewässer. Alles fließt. Die Kinder klammern sich an ihre Schultafeln und Schulbänke und treiben ins Mittelmeer. Das Mittelmeer ist mittlerweile die Mitte der Welt. Im Traum sprach ich mit Großmutter Deutsch. Seit wann träume ich auf Deutsch? Weine ich auch auf Deutsch? Weiß ich nicht mehr. Ich fließe durch mein Wörterbuch. Deutsch als Fremdsprache. Deutsch als fremde Sprache. Fließend kann ich nun Deutsch. Ich Nließe in Deutsch. Ohne schlammig zu werden. Nur in deiner Erde bin ich in meinem Schlammzustand. Du klebst an mir. Deine Erde wird nun seit Jahren immer schlammiger. Immer schwerer. Nasser. Roter. Schwärzer. Man kann nicht durch deine Straßen gehen, ohne versteckt zu bleiben. Wie ein schweres, wundes, inneres Organ trage ich dich in mir. Es schneit. Ich denke an dich, während ich mich von dem leuchtendwarmen Weihnachtsmarkt entferne und immer mehr in die menschenleeren, kalten, schneevollen Straßen komme. Es bleiben nur kleine Lichter. Lichterketten. Am Fenster. Fenster der Nacht. In der tiefen Nacht der Erinnerung leuchten ferne Fenster am Horizont. Sie leuchteten, wenn Vater uns fuhr. Im Auto. Lichter, die uns begleiteten. Wie an deinem blauen Horizont geklebte Glitzerperlen und Silberknöpfe. In deiner tiefruhigen Nacht. Ich liebte diese kleinen fernen Lichter. Diese wach leuchtenden Fenster. Wir fuhren damals über deine Wege. Auf deiner noch von der Wüstensonne warmen Sandhaut. Die Reifenspuren des Autos sind nun unter den Raupen der schweren Panzer verschwunden. Unsere Reifenspuren sind zu Erinnerungsfossilien geworden. Und deine fernen Lichter zu Flammen im dunkelgrauen Rauch der Rache. Es schneit. Ertrunken in Gedanken, laufe ich durch den Weihnachtsmarkt. Schwimmend im Glühweingeruch. Aus diesem filtert mein Erinnerungssinn Zimtduft als vertrautesten Bestandteil heraus. Es ist so schön, wie Zimt überall in der Welt nach Zimt riecht. In Vergangenheit und Gegenwart. Sowohl in der großen Küche der Großmutter, die nun irgendwo zu Asche geworden ist, als auch am unversehrten Weihnachtsmarkt. Ich suche nach Ähnlichkeiten. Ähnlichkeit ist ein schönes Wort in beiden Sprachen. An Ähnlichkeiten halte ich mich fest. Ich vergleiche die Sprachen miteinander. In meinem Kopf sitzen aufgereiht die gelernten Wörter. Die Wörter bekommen Farbe und Form. Wie sie klingeln. Wie sie sich als eigenständige Wörter und nicht als etwas Fremdes, Vergessbares in meinem Kopf festsetzen. Sie sind nicht mehr im Wörterbuch. Mein Kopf wird zum Wörterbuch. Meine Muttersprache verhält sich fremd, sobald sie aus meinem Mund gesprochen wird. Auf der sicheren, mit Leuchtketten und Sternen geschmückten Straße. Unter dem schneevollen Himmel. Die Wörter fließen der Reihe nach aus meinem Mund und frieren. Sie sind Minderheiten unter der Mehrheit. Sie fliegen aus meinem Mund raus, und wie Wintertauben suchen sie sich auf den Dächern alter Häuser einen Platz. Sie schmiegen sich aneinander. Verblasst im Nebel. Verloren in ihrem Klang. Ich rede nur noch selten in meiner Muttersprache. „Zum Schluss wirst du deine Muttersprache vergessen, ohne ein gescheites Deutsch gelernt zu haben“, sagte meine peruanische Kommilitonin. Ich versuchte, was sie sagte, in meine Muttersprache zu übersetzen, wie ich es ständig tue. Ich übersetze alles. Nicht nur Wörter. Auch Gegenstände. Ich suche überall nach Vertrautem. Nach etwas, was mich an dich erinnert. Nach etwas, das Heimat in sich hat. Vor fünfJahren, als ich mein Studium Deutsch als Fremdsprache begann, war alles noch ruhig. Es gab zwar Unruhe und Ungerechtigkeit. Aber du warst ein eigenständiges Land. Mit Straßen und Infrastruktur. Mit Häusern, die etwas bedeuteten. Häusern, die nicht nur noch aus losen Steinen bestanden. Ein Land, in dem es noch Kinder gab. Kinder, denen ich Deutsch beibringen wollte. Nun bist du vergangen. In dir. Wie lose Wörter liegen hier und da deine Bausteine. Scherben wie Buchstaben. Holzspäne wie Bindestriche. Leblose Menschen, auseinandergerissene Körperteile, wie Komma, Fragezeichen, Ausrufezeichen liegen auf den Straßen. Die Straßen sind die zerkratzen Linien auf dem weißen Papier des Landes. Linien, auf denen schwarze Tinte verschüttet wurde. Keiner sucht mehr nach den ältesten Buchstaben, die einmal auf deine Steine gemeißelt worden sind. Die Archäologen sind längst geflohen. Die Journalisten sind nun am Werk. Du bist mittlerweile berühmt. Weltberühmt. Nicht mehr für deine alte Schriftsprache und deine biblischen Flüsse, sondern für die Blutflüsse, die in dir fließen. Keiner kann etwas tun. Ich auch nicht. Ich bin da geblieben mit meinem Wörterbuch, Deutsch als Fremdsprache. Nicht ich kehre zurück zu dir, um Deutsch zu unterrichten, sondern du bewegsst dich zu mir. In Form einer Lawine. Einer Lawine aus Furcht und Flucht. Verwiesen. Vergiftet. Vernichtet. Du fließt nicht. Du fliehst. Ohne deine Zitronenbäume. Ohne deine Palmen. Deine Palmen sind schon längst enthauptet. Eine enthauptete Palme ähnelt einem enthaupteten Menschen. Überlebt nicht mehr. Und deine Zitronenbäume blühten schon längst nicht mehr. Sie bluten. Solidarisch. Und die Kinder kommen. Schwimmend. Zu Fuß. Übers Gebirge. Übers Meer. Bis hierher. Bis ins sichere Land. Ins Land, dessen Sprache ich lerne. Sie fliehen. Sie Nüchten. Die Kinder, die es schaffen. Nicht die, die vergraben sind in der Asche ihrer Häuser. Nicht die, die ertrunken sind. Ich nehme dich in mir auf. Das Wasser wird immer kälter. Immer rosafarbener. Ich fühle mich schwer. Dein Gesicht hat etwas von der Vergangenheit. Mein Gesicht hat etwas von dir. Zu dir würde ich so gern zurückkehren. Auch wenn es dich nicht mehr gibt. Je weniger es dich gibt, desto mehr baue ich dich in mir auf. Mit Wörtern. Ich gebe dir Struktur. Infrastruktur. Es schneit in meiner Schneekugel, in der ich mich seit Jahren befinde. Es staubt in deiner Staubkugel. Sandkugel. Bombenkugel. Es regnet in mir Buchstaben. Buchstaben. Zerstreut. Zerkaut. Zerbröselt. Kopfkissen. Daunenfedern. Feder meines Schreibens. Wehtuend. Kopfkissen voller Schneeflocken. Unter meinem Kopf, in dem meine Träume mitten zwischen Bomben und Feuer Dezember 2015 49