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sie inne — kurz lacht sie auf. Sie ist zurück im Jetzt und blickt sich um. Hat ssie wirklich gelacht? Doch der Mann, der links neben ihr sitzt, starrt weiterhin in seinen Schoß. Also zieht sie sich in sich zurück, zurück ins Schlafzimmer. Hier liegt ein Paar rote Socken aufdem Boden. Die Socken ihres Mannes, Anlass wiederkehrender Diskussionen, die sie dann in enger Umschlingung unweit des Streitgegenstands beilegten. Sie streicht über das herzförmige Muttermal am Unterarm. Sie findet es unbegreiflich, dass es bereits vier Wochen her ist, dass sie die Tür der Wohnung verschlossen hat, um zu gehen. Um zu gehen und nicht wiederzukehren. Sie kann sich nicht vorstellen, nie wiederzukehren. Vielleicht ist es ja auch kein Nie, formen ihre Lippen tonlos. Nun versagt der Jetzt-Raum. Die Sorgen halten wieder Einzug. Und überhaupt?! Was macht sie hier so lange. An der serbischen Grenze lotste man sie und die anderen in dieses eingeschossige Betongebaude. Das war vor einem halben Tag. Durch eine Eisenstabtiir in ein Hinterzimmer, in diesen Raum, dessen Tür zwar nicht versperrt wurde und doch ist er unbestimmt bestimmter Aufenthaltsort. Er ist ein zynischer Grenzfall. Gleich den letzten Jahren, die sie unter offenem Verschluss in Damaskus hielten. Sie zieht mit dem rechten Fuß den Sprung in der Fliese vor ihr nach und berührt erneut das Muttermal. Die Fahrt begann im Auto des Nachbarn. Der hatte ihren Mann gut gekannt und sie nimmt an, dass sie ihm leid tat. Er war es, der auf sie zukam und ihr anbot, mit ihm, seiner Frau und der Tochter Damaskus zu verlassen. Er hatte ihr die Route erklärt, die ihm in diesen Tagen als sicherster Weg beschrieben worden war. Sie versuchte sich den Weg zu merken, aber ihr Kopf spielte Verstecken. Während sie den Schlüssel im Türschloss drehte, zählte sie die Orte auf, die sie passieren würden, doch jedes Mal riss die Strecke ab. Die Tür in den Jetzt-Raum öffnet sich kurz, wird ebenso schnell wieder geschlossen ohne eintretende oder austretende Person. Ihr Blick geht wieder zum Fenster. Es wird dämmrig. Ihr Magen knurrt. Sie ist zurück in dem zweitürigen Auto des Nachbarn, schaut hinaus in die vorbeiziehende vertraute Landschaft. Das Mädchen neben ihr weinte. Sie ist sechzehn, „erstmals verliebt“, sagte ihr die Nachbarin fast schon entschuldigend. Ah, ja, dachte sie. Sie hatte die beiden gesehen. Der junge Mann war ihr aufgefallen, auch wegen seiner großen Augen. Sie wollte auch weinen. Sie wollte in das Weinen des Mädchens einstimmen. Stattdessen musste sie lächeln. Sie fuhren an einer niedrigen Steinmauer und einem Olivenhain, in dem ein Esel graste, vorbei. Das Lächeln war dem Esel geschuldet. Es wurde ganz schief, als irgendwo in weiter Ferne etwas detonierte. Sie zieht mit dem Fuß Halbkreise. Es fällt ihr auf, dass die Fußsohle sich am rechten Schuh abzulösen beginnt. Zu Fuß nach Foga in der Türkei, nachdem sich ihr Weg und der der Nachbarn trennten, verkeilte sich der Schuh. Als hätte er sie zu verankern gesucht, damit ihr die schwindlige Bootsfahrt von Foca Richtung Griechenland erspart bliebe. Im Dunkel der Nacht, in dem kleinen Fischerboot, in das die Wellen beständig Wasser schaufelten, hielt sie sich an den roten Socken fest. Der Schlepper war zu Beginn der Bootsfahrt, nachdem er ihnen die Richtung bedeutet hatte, ins Wasser gesprungen und zurück ans Ufer geschwommen. Das Türgeräusch reißt sie abermals aus den Gedanken. Es wird ein Korb mit belegten Broten ins Zimmer gebracht. Ein Beamter sagt etwas in der ihr unverständlichen Sprache. Die Hände greifen in den Korb. Sie setzt sich und wickelt das Brot aus. Sie kaut und denkt an den Spruch: „Der Kapitän verlässt das sinkende Schiff.“ Sie hat die Überfahrt überlebt. Sie wusste auch vor der Bootsfahrt von den unsagbar Vielen, die lebendig die Grenze Syriens hinter sich ließen, um hier den Tod zu finden. Was wohl die Schwester gerade macht? Als sie das Festland Griechenlands erreicht hatte, war sie einige Tage von der griechischen Grenzpolizei festgehalten worden. Wieder auf freiem Fuß, telefonierten sie. Die Schwester weinte. Das galt auch der Trauer um Hazem, den die Schwester ebenso lange kannte und auf andere Weise so geliebt hatte wie sie. Sie fühlte sich schuldig, dass die Iränen abermals nicht kommen wollten. Sie tröstete die Schwester. Sie sprach mit einer ihrer Nichten, die ihr erzählte, dass sie in großen Töpfen Marmelade einkochten. Ein Glas sei für sie. Sie versprach, sich bald wieder zu melden. Seitdem hatten sie voneinander allerdings nichts mehr gehört. Die Tür öffnet sich jetzt und der Beamte kommt zurück. Er ist deutlich freundlicher, als es die Beamten waren, die sie in Griechenland erlebt hat. Er spricht zu den Wartenden und macht Handgesten, die als Aufforderung, mit ihm zu kommen, zu verstehen sind. Die kühle Abendluft riecht nach Benzin. Der Beamte führt sie zu einem Bus. Der Bus ist unbeschildert. Sie denkt, dass sie von links gekommen ist und nach rechts da hinüber über die Grenze muss. Sie greift nach dem Papier in ihrer Hosentasche. Eine Adresse in der österreichischen Hauptstadt Wien, die ihr diktiert wurde. Sie hatte sie sich mehrfach ansagen lassen müssen. Die Schwester kennt jemanden in Wien, dem sie Geld für sie geschickt hat. Bis dorthin gilt es nun zu kommen. Sie steigt mit den anderen ein. Der Bus zieht eine Schlaufe auf dem Platz vor dem Gebäude an der Grenze. Dezember 2015 51