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Thomas Wallerberger Inhumanität als nationales Recht Die Situation im September 2015 Bicske, Röszke I-II, Vämosszabadi, die ungarischen Flüchtlingslager insgesamt, waren in den letzten Wochen nicht weit davon entfernt’ Iodesstätten zu werden. Viktor Orban nahm dieses Risiko in Kauf, er kalkulierte damit. Der europäischen Öffentlichkeit, allen voran den europäischen Institutionen von EU-Kommission bis Rat, fehlen dazu die Worte. Es fehlt ihnen die Sprache, die nach Gleichheit und Gerechtigkeit zu fragen in der Lage ist, die Sprache, in der moralische Normen und ethische Standards formuliert werden. Und es fehlen Maßnahmen, um diese durchzusetzen. Gegen Unmenschlichkeit gibt es innerhalb der EU kein Vertragsverletzungsverfahren, dazu braucht es „wenigstens“ ein zu hohes Haushaltsdefizit. In der oft als Friedensprojekt bezeichneten Europäischen Union bleibt Inhumanität weiterhin ein nationales Recht. Durch Ungarn rollen seit Wochen Sonderzüge in Richtung österreichische Grenze. Vor dem 15. September und der SchlieBung der letzten Lücke im Grenzzaun zu Serbien, vor allem aus Röszke, momentan aus den an Kroatien angrenzenden Gebieten. Die ungarische Regierung leugnet sie. Zusammen mit anderen Helfern aus Deutschland und Österreich sah ich — anfangs wie gelähmt - zu, wie sie am letzten Tag der offenen Grenze zu Serbien im ungarischen Grenzort Hegyeshalom einfahren. Blaue Sonderzüge der ungarischen Staatsbahn. Ein jeder transportierte zumindest tausend Flüchtlinge. Durch einen Polizeikordon wurden die Ankommenden zu einem Umschlagplatz geleitet. Scharfe Kommandos auf Ungarisch und Englisch. Die Flüchtinge, zumeist in größeren Familienverbänden unterwegs, wurden gesammelt, umkreist und zu einem fünf Kilometer langen Fußmarsch in Richtung Nickelsdorf gezwungen. Vor Ort gab es weder Lebensmittel, Wasser, Medikamente noch Sanitäter oder Ärzte. Keine Transportmittel für Alte, Kranke und Verletzte. Flüchtlinge stolperten durch einen regennassen, nachtschwarzen Korridor. Vorbei an Bewohnern des Ortes, die in den Vorgärten ihrer Einfamilienhäuser standen, filmten und Fotos knipsten. Nach den ersten paar Tausend verschanzten sie sich hinter Rollläden, durch die hindurch das blaue Licht der Fernsehapparate schimmerte. FünfPKWs und ein Kleinbus bedeuteten bedrückend wenige Plätze, um zumindest denen Hilfe zu leisten, die sie am dringendsten benötigten. Die ungarische Polizei machte die Aufgabe noch schwieriger. Um eine Frau, deren Bein blutete, einen Mann mit Kriegsverletzungen oder eine Hochschwangere mit dem Auto zur Grenze bringen zu dürfen, mussten Schreiduelle mit der Exekutive ausgefochten werden. Die wenigen mitgebrachten Regenjacken und Hilfsgüter waren binnen Minuten vergeben. Erdrückend die schon beantwortete Frage: „Wo bleibt bloß die ungarische Zivilbevölkerung?“ An der Grenze wurden Flüchtlinge, die unter dem Flugdach der ungarischen Grenzstation rasteten und medizinische Versorgung benötigten, dazu aufgefordert diese in Österreich zu suchen: „We dont have a doctor here, go to the Austrian border.“ Ein Flüchtling dolmetschte ins Arabische, vor Ort gab es keine Übersetzer. Binnen weniger Stunden entledigte sich Ungarn Tausender seiner Schutzbefohlenen. Noch tags zuvor war das Lager in 52 ZWISCHENWELT Vämosszabadi, ein „registration camp“ unweit von Györ, heillos überfüllt. Auch hier kamen stündlich Busse an. Taxis kreisten um das Lager wie Geier. Niemand wollte riskieren in Ungarn festzustecken. Bevor die Exekutive aber erlaubte, Flüchtlinge mit dem Privatauto zum Bahnhof zu bringen, wurden stets die wartenden Taxis bedient. Ein junger Syrer erzählte, dass er seine Papiere im Lager in der Matratze versteckt hatte, sie wären ihm ansonsten von den Behörden abgenommen worden. Er zeigte sie mir, es waren Registrierungspapiere. Offenbar wollte Ungarn nicht nur alle Flüchtlinge über die Grenze in Richtung Österreich und Deutschland loswerden, sondern auch verhindern, dass sie aufgrund der Dublin-Verordnung wieder zurückgeschoben werden. In offiziellen Aussendungen hoffen die Behörden weiterhin doppelzüngig, dass Flüchtlinge bei der Registrierung „kooperieren“. Die letzte Fahrt aus Hegyeshalom bringt uns über Andau nach Wien. 1956 waren hier binnen kurzer Zeit über 70.000 UngarnFlüchtlinge nach Österreich gelangt. Nicht weniger schaffen es diesen September über die österreichische Grenze. Ein jeder von ihnen ist zu beglückwünschen, er hat mitunter sein Leben oder das seiner Familie gerettet. So wie unser letzter Passagier, ein Familienvater mit seiner am Herz operierten, (geschätzt) zweijährigen Tochter. Ungarn ist kein sicheres „Aufnahmeland“. Das Öffnen der deutschen und österreichischen Grenze war (und ist) Northilfe. Gefahr in Verzug. Mit einem pseudo-juristischen Jargon der Inhumanität legitimiert die ungarische Regierung ihr Vorgehen gegen Flüchtlinge. In diesem Jargon werden menschliche Schicksale zu juristischen Fragestellungen und es scheinen Lebensbedrohung und Tod unvermeidlich und in keinem Zusammenhang mit den getroffenen Maßnahmen. Sterben, das passiert dann zufälligauch noch. Man fühlt sich an Kafkas „Prozess“ erinnert, als sich Josef K. — der Angeklagte - am Ende der Erzählung, kurz vor seiner Hinrichtung, fragt: „Wo war der Richter, den er nie geschen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war?“ Es gibt zwei Strategien, um den Tod eines Menschen, verschuldet durch die Staatsgewalt, zu rechtfertigen: Erstens, sukzessive Entmenschlichung, die bis zur Vernichtungspolitik führen kann und an deren Ende nicht der Tod eines Menschen, sondern eines „Unwürdigen“ oder „Parasiten“ steht. Zweitens, Verschleierung von Verantwortung durch Verteidigung „demokratisch legitimierter“ Maßnahmen, die zur Tötung geführt haben. Zwei Strategien, die ineinander greifen, aufeinander folgen und beide von der Orbän-Bande in Abstufungen angewandt werden. Jeder „Erfolg“, jede Maßnahme, die unwidersprochen bleibt, steigert die Härte. Als ein 50-jähriger Pakistani vor kurzem auf den Zuggleisen in Bicske starb, war er, Schutzbefohlener des ungarischen Staats, angeklagt, ohne jemals vor einem Richter gestanden, verurteilt, ohne jemals ein Gericht gesehen zu haben. In der Logik des ungarischen Jargons der Inhumanität war sein Tod kausal seinem Leben geschuldet: Ein Arbeitsmigrant, der aufgrund seiner Suche nach einem besseren Leben dieses verwirkt hat... Er war in Ungarn gestrandet, wahrscheinlich wartete er wie viele andere tagelang auf die behördliche Öffnung des Bahnhofs