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Mathias Kropfitsch Messungen Mein Denken war nie dafür ausgelegt gewesen, zugedröhnte Kinder in Menschenasche wühlen zu sehen. — Anja Braunwieser, Transit in Doha Aber man sieht nur, wozu die Sehwerkzeuge ausgebildet sind — Tanja Dückers, die Mär von den jungen unpolitischen Autoren 32 CY H- — +622 33 33 Hx — -(C-622) 32 (C = Anno Domini, H = Anno Hegirae ) Italien fordert Kultursoldaten fir Kriegsgebiete — Süddeutsche Zeitung, 21.03.2015 Ein Haufen Lehmhütten, mehr nicht. Oder doch, Dornbüsche. Akazien, Tamarisken. Paar Palmen. Kamele. Aber sonst — Als René Caillié am 20. April Timbuktu erreicht, ist er ganz schön sauer. Denn wie jeder mäßig gebildete Europäer weiß, ist die Stadt in Wirklichkeit ein Ort von sagenhaftem Reichtum, die Häuser sind aus Gold und Elfenbein, in den Straßen türmen sich Gewürze, es duftet nach gebratenem Lammifleisch, überall Shisha, Bauchtanz und Lautenmusik. Es ist 1828 AD, und René kommt eindeutig zu spat. Was er hier vorfindet, ist ein sandfarbenes Wüstenkaff, mit langsam zerbröselnden Häusern und staubigen Menschen. Er bleibt zwei Wochen, knabbert Datteln gegen Durchfall, spielt Fangen mit Fata Morganas, dann tritt er die Heimreise an. 753 AH besucht Abu Abdullah Muhammad ibn Battuta die Stadt, die gerade zum Königreich Mali gehört, und ist auch nicht sehr beeindruckt. Überhaupt, dieses Mali — so ganz weiß er nicht, was er davon halten soll. Einerseits legen die Eltern ihre Kinder in Ketten, bis sie den Koran auswendig hersagen können; okay. Aber dass die Sklavinnen des Königs unverschleiert und für alle sichtbar auf die Straße gehen, findet er nicht so gut. Und genau so wenig gefällt es ihm, dass die Menschen sich vor König Mansa Sulayman in den Staub werfen und mit Asche überschütten, wie es allenfalls Allah gebührt; dass die königlichen Poeten mit Vogelmasken und Federn durch den Palast hüpfen und einen Höllenlärm veranstalten; dass sein Willkommensgeschenk in grade mal einer Handvoll Hirse, Brot, Fleisch und Joghurt besteht. Er beschwert sich beim König über diese miese Gastfreundschaft und bekommt für die Dauer seines Aufenthalts 1 Haus + Taschengeld. Alles in allem ist er verwundert über den schwachen Intellekt der Menschen hier und über ihre Achtung vor gemeinen Dingen. Vom sagenhaften Reichtum Timbuktus hat er in Timbuktu nichts gesehen; er reist bald ab. Bei seiner Ankunft in Europa sieht René Caillié sich heftiger Kritik ausgesetzt. Dass das sagenumwobene Timbuktu nichts weiter sei als eine Anhäufung von Lehm und Sand, will man hier so ohne weiteres nicht hinnehmen. Rene ist zwar der bislang einzige christliche Europäer, der nach Europa zurückkehrt, um über Timbuktu zu berichten, aber woran man glaubt, das gibt man so schnell nicht auf. Aus Großbritannien wird ihm unterstellt, er sei überhaupt nie in Timbuktu gewesen, sondern habe sich einfach die Aufzeichnungen des ermordeten britischen Forschers Alexander Gordon Laing besorgt und sie als die eigenen ausgegeben. Woran die Europäer glauben, fußt auf Erzählungen muslimischer Reisender wie al-Hasan ibn Muhammed al-Wazzan al-Fasi, besser bekannt als Johannes Leo Africanus — den Namen erhält er, nachdem er von genuesischen Korsaren gefangengenommen, an Papst Leo X. verkauft und zum Christentum konvertiert wird. Leo X. hat es gerne derb; seine Hofnarren lässt er krankenhausreif prügeln, wenn sie einmal nicht lustig sind, und sein liebster Spielgefährte ist Hanno, der indische Elefant, den ihm König Manuel I. geschenkt hat, der Gründer des portugiesischen Kolonialreichs. Al-Hasan kehrt nach vielen Jahren zurück nach Marokko, wo er hergekommen ist, oder er stirbt noch in Italien an einer der vielen Seuchen, die im Fahrwasser der Renaissancekriege angespült werden, so genau weiß das niemand. Seine Berichte über Timbuktu werden in späterer Zeit vielfach angezweifelt oder für Werke venezianischer Ghostwriter erklärt werden. Was außerdem nachhaltig zur Legendenbildung um Timbuktu beigetragen hat, ist die Geschichte von König Mansa Musa, Mansa Sulaymans großzügigerem Bruder und Vorgänger, der auf seiner Haddsch nach Mekka 724/725 a.h. dermaßen mit seiner Güte in Form von Gold um sich wirft, dass es den auf Gold basierenden ägyptischen Dinar bis ins nächste Jahrhundert hinein ruiniert. Mit Mansa Musa beginnt der wirtschaftliche Aufstieg Timbuktus, der im 15. und 16. Jahrhundert westlicher Zeitrechnung zum Höhepunkt gelangt und dann langsam abebbt. Die Hauptquelle des Reichtums ist der Handel mit Sklaven, Eunuchen und Salz. Einige Zeit, nachdem René Caillié in Timbuktu ankommt, es desillusioniert wieder verlässt und in Europa angefeindet wird für das, was er geschen hat und selbst nicht wahrhaben möchte, schließt Mahommah Gardo Baquaqua in Djougou seine Ausbildung an einer Madrasa ab. Vertraut gemacht mit Mathematik und Literatur, bekommt er bald einen Job auf einer der Handelsrouten zwischen dem Kalifat von Sokoto und dem Reich der Ashanti. Auf einer Handelsreise wird er gefangen genommen und versklavt, doch einer seiner Brüder ist sofort zur Stelle und kauft ihn wieder frei; als er aber wegen versuchten Konsums alkoholischer Getränke erneut verhaftet wird, hat er kein Glück mehr: Man verkauft ihn standrechtlich auf ein Schiff nach Brasilien. In Brasilien kommt er auf eine Landwirtschaft in der Nähe von Olinda und versucht zunächst, sich an die örtlichen Gepflogenheiten anzupassen: die harte Arbeit, den Hunger, den Schlafmangel, die Schläge mit der Peitsche und das alles; er erkennt aber bald, dass das nichts für Dezember 2015 65