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„Ja“, sag’ ich. „Aber nur wenn sie am frühen Nachmittag kommen, gut Herr Major?“ „Beseder“ (in Ordnung), brummt er. „Die Bezahlung ist die gleiche. Fang’ an, deine Kekse zu backen.“ Vanillekipferln machte ich. Der Kinder wegen. Denn ich hatte unberufen sechs Sabres zu versorgen. Es kamen - toi toi toi— noch drei dazu, die Deutsch lernen mussten. Deren Vater — ein prachtvoll schöner Marineofhizier — wird nach Hamburg geschickt, um Schiffe für die israelische Flotte zu bauen. Mit dem Sohn, dem 17-jährigen Neriel — das heißt „Gott ist mein Licht“ —, hatte ich auf Wienerisch ein richtiges „G’frett“. Er wollte nicht weg von Israel. Er musste Deutsch lernen und sein Englisch aufpolieren, denn er sollte in Hamburg an die amerikanische Schule gehen. Einen Großteil unserer Lehrstunden weinte er und ich tröstete ihn. „Schau, Neri, Hamburg ist wunderschön.“ Ich hatte ein Buch über die Hansestadt gekauft und zeigte ihm die bunten Bilder. „Das ist die Elbe. So einen Fluss haben wir gar nicht, der Jordan ist doch so schmal. Und das sind Tannen. Die gibt's bei uns nur sehr selten. Und grün, Neri, alles ist grün. Denn dort regnet es auch im Sommer.“ Es nützte nichts. Er weinte. Ich nahm sein Heft an mich. Von links nach rechts hatte ich Englisch geschrieben. Darunter dasselbe in Deutsch. Und dann von rechts nach links die hebräische Übersetzung. Er nahm ein Vanillekipferl, schaute mich mit großen, verweinten Augen an und sagte leise: „Ich hab’ hier eine Freundin. Sie ist sechzehn. Mit blauen Augen, glaubst du mir das? Und sie hat langes schwarzes Haar. Bei ihr ist mein zweites Ich zuhause. Und ich soll zwei Jahre in Hamburg sitzen.“ Er schluchzt. Ich gebe ihm ein Taschentuch. Es ist eine blütenweiße Wiener Serviette mit gehäkeltem Ajour rundherum und dem Monogramm des Mädchennamens meiner Mutter. „Du kannst doch zu den deutschen Weihnachtsferien auf Besuch nach Tel Aviv kommen, nicht?“ Da lächelt er. Ein kleiner Mond geht über seinem schönen, braungebrannten Kindergesicht mit leichtem Anflug von Bart auf. Ende Dezember klingelt das Telefon. „Wie sag ich Schalom auf Deutsch?“, lacht er in den Apparat. „Ich war vorige Woche Ski fahren und heut’ geh’ ich Segeln am Meer. Ich wollte Dir nur sagen, dass ich in Hamburg ein guter Schüler bin und viele deutsche Freunde habe. Ciao, Gerda.“ Ich lege den Hörer auf. „Norddeutschland hast du also versorgt“, sag’ ich vor mich hin und seufze. „Ah, aber du hast Kiel vergessen, junge Frau“, lache ich in mich hinein, runter in die leichte rundliche Erhebung, die man Bauch nennt. Denn auch in Kiel werden Schiffe gebaut und eine sechsköpfige Familie soll für drei Jahre auch dorthin geschickt werden. „Meine Frau und ich wollen dort ein Haus mieten“, sagt eine sympathische Stimme am Apparat, „können wir morgen zu dir kommen, damit du den Mietvertrag übersetzt?“ Ich begrüße den Mietvertrag: Drei dicht bedruckte Seiten, ein Dokument deutscher Gründlichkeit; ich übersetze alles getreulich so gut ich kann auf Hebräisch. Die beiden gehen zufrieden weg und laden mich nach Kiel ein. Drei Wochen später kommt ein sehr aufgeregter Anruf aus Haifa. „Gerda, der Hausbesitzer in Kiel hat sein Haus verkauft! Ich komme eben von dort zurück. Ich hab’ ein kleines Haus mit Garten am Meer gefunden. Hast du Zeit für einen neuen Vertrag? Ich komm! allein. Meine Frau ist bös’ auf ganz Deutschland.“ Drei Monate später bekomme ich eine Ansichtskarte aus Kiel mit einer Einladung für den nächsten Sommer. Geschrieben von der Frau... In tadellosem Hebräisch. „Im Ministerium sagt man, du bist die beste Englischlehrerin. Aber ich bin ein alter Mann und kann nicht einmal das englische ABC. Ich bin 55, und ich hab’ dreißig Lehrstunden im Sack, mit meinem Abschied aus der Armee. Wann darf ich kommen?“ Ein riesengroßer, schr beleibter Herr erscheint zwei Tage später mit einem kleinen Strauß rosa Nelken. Träfe ich „ce type“ im Dunkeln meiner kleinen Tel Aviver Propheten-Straße, liefe ich davon. Aber jetzt sitzt er bequem in meinem weinrot tapezierten Wiener Fauteuil, ich am Sofa. Ich habe nämlich ein Prinzip. Wenn mir so einer daherkommt, der sich schämt, dass er nicht einmal das ABC kann, muss ich ihn erst „vorbereiten“. Ich nenne das „Defrosting“. Also Auftauen. Wie man ein Stück Hendel aus dem Kühlschrank nimmt und es auftauen lässt, um es zu kochen: Ich verabreiche ein paar meiner Kekse oder ein Stück vom Schabbat-Kuchen, der meistens für eine Woche ausreicht, und ein Glas Tee mit einem Schuss Cognac. Dann erkundige ich mich freundlich nach Frau und Kindern und meistens verschwindet so die Verlegenheit von beleibten Herren mittleren Alters. Wir geben uns dem intensiven Studium des ABC hin, die rosaroten, dicken Backen des Herrn glänzen und ein Wortschwall kommt heraus: „Ich bin nämlich sehr scheu, weißt du, aber du hast mir Vertrauen eingeflößt, mir, einem primitiven Ex-Soldaten mit 55, geboren in Sarajevo... Ich möcht’ so gern die Kinderausgabe der ‚Jerusalem Post‘ mit meiner kleinen Tochter lesen. Glaubst du, ich kann das schaffen?“ „Bevadai — aber sicher“, sag’ ich. „Wir müssen nur ernsthaft arbeiten.“ Er geht zufrieden weg. Nun, alles ging gut in meiner Karriere mit 75, bis Ami kam. „Ami“ ist die Abkürzung für „Amiel“, das heißt „Gott ist mein Volk“. Ami ist mittelgroß, schlank, mit einem feinen EI-GrecoProfil und herrlich leuchtenden dunkelbraunen Rembrandt-Augen, beschattet von den schönsten langen Wimpern, die ich je bei einem Mann geschen habe. Er trägt die beige Uniform der Luftwaffe. Er schaut mich mit seinen großen, warmen Augen an, lächelt und mein 75-jähriges Wiener Herz dreht sich um. „Was ist mit dir, vereistes, altes Herz, regst du dich wieder?“, denk’ ich mir, „bei diesem 50-jährigen Sabre-Sohn und meinen weißen Haaren?“ „Ich bin dein nächster Französischschüler, Madame“, sagt er und schmunzelt, „ich hab’ nur sechs Monate Zeit, um die Sprache zu lernen, und dann geh’ ich mit meiner Frau und den Kindern nach Paris.“ Ich nicke. Er geht vor. Da klopfe ich, vollkommen würdelos, etwas zu wienerisch, auf seine schlanke Schulter. „Grad’ gehen, junger Mann“, sag ich ganz leicht. Er dreht sich um. Das EI-Greco-Profil ist verdunkelt. „Ich bin Pilot. Mein Rückgrat hat es abbekommen. Mein Flugzeug ist abgestürzt. Der zweite Pilot, mein bester Freund, liegt seit einem Jahr auf dem Friedhof, auf dem auch Theodor Herzls Gebeine ruhen - hoch über den Hügeln von Jerusalem. Er und ich studierten zusammen an der Tel Aviver Universitat Psychologie, mein und sein Lieblingsfach. Er war der bessere Schiiler von uns beiden...“ Der kalte graue Tel Aviver Kachelboden unter mir tut sich auf und ich will versinken.... Stattdessen sage ich leise „Bitte nimm’ Platz“ und zeige mit der Hand Richtung Tisch im Esszimmer nebenan, unseren feinen Wiener Esstisch, an dem ich unterrichte. Er setzt sich auf einen der Stühle mir gegenüber. Dann nehme ich einen Zierpolster vom weinroten Sofa und Dezember 2015 69