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Chadasch“. Der Rahmen verweist damit auf die Konzeption des Buches als — wie es auf dem Umschlag heißt — „transatlantische Geschichte einer jüdischen Familie im 19. und 20. Jahrhundert“ (das 21. Jahrhundert ließe sich in diesem Werbespruch durchaus noch hinzufügen). Der erste Teil erzählt von Johann Schnitzler, der als Sohn eines jüdischen Schneiders in Ungarn geboren wurde, von dort mit dem Leiterwagen nach Wien reiste und hier ein bekannter und erfolgreicher Arzt wurde. Im zweiten Teil steht Arthur Schnitzler im Zentrum. Auch hier wird die weitere Verwandtschaft in die Darstellung einbezogen. Der dritte Teil handelt sodann von Heinrich Schnitzler und seiner Familie. Ein kürzerer vierter Teil schließlich widmet sich nach dem Tod Heinrich Schnitzlers dem Leben seiner Frau Lilly Schnitzler sowie deren beiden Söhne. Die Haltung der Autorin gleicht der einer Enthusiastin, die mit Emphase und Empathie in Archivbeständen stöbert, am liebsten aber wohl ausführlich mit Familienmitgliedern spricht und Orte besucht, an denen sie noch etwas Biographisches zu finden oder zu erahnen hofft. Manche Eigentümlichkeiten des Genres der Biographie — etwa den Übergang von der Rekonstruktion der Lebensumstände zur Enthüllung des Privaten — hat Jutta Jacobi mit ihrer Darstellung der Lebensläufe so vieler Mitglieder der Schnitzler-Familie multipliziert. Ihre Liebe zum Thema hat sie dabei durch verschiedene Recherchen, aber auch durch Ausschmückungen ausgedrückt, wobei dem Gesellschaftsleben mitunter mehr Raum beigemessen wird als den gesellschaftlichen Vorgängen. Über Gespräche innerhalb der Familie, Simmungen, Gefühle wird so erzählt, als sei die Autorin bereits seit dem 19. Jahrhundert dabei gewesen oder würde gar ihre eigenen Memoiren vorlegen. Einmal führt sie sogar — im Literaturarchiv Marbach, also am passenden Ort - ein imaginäres Gespräch mit einer Verstorbenen, nämlich mit Louise Schnitzler, der Ehefrau Johann Schnitzlers. Dass dieses Buch schließlich nicht zur Sachbuch-Variante der gegenwärtig überaus beliebten literarischen Abteilung des Familienromans geriet oder nur eine Sammlung feuilletonistischer Portraits wurde, liegt letztlich doch am Interesse der Autorin, herauszufinden, wie es denn gewesen ist. Dafür hat sie nicht nur manche Quellen befragt, sondern auch kundige Menschen, von denen sie uns - hier sich wieder dem Genre der Memoiren annähernd — ausführlich berichtet. Eine geduldige Auskunftsperson, die von ihr beschrieben wird, war Peter Michael Braunwarth, ihm haben die LeserInnen ebenfalls zu danken. Gerne begleiten werden sie die Erzählerin vielleicht zum Genealogen Wolf-Erich Eckstein ins Matrikenamt der Israelitischen Kultusgemeinde, um seine verzweigten Kenntnisse, seine Hilfsbereitschaft, seinen Witz und seinen Zigarettenkonsum kennenzulernen. Möglicherweise werden sie auch interessiert mit der Studentin der Judaistik Eszter Lestäk auf den Spuren der jüdischen Gemeinde von Nagykanizsa, dem Herkunftsort Johann Schnitzlers, wandeln und etwas über das Thema ihrer Magisterarbeit erfahren. Weniger informativ für die Familiengeschichte sind da wohl die Details über Streitereien in einer alternativen Landkommung, die eine aus Sachsen gebürtige Frau mit Rucksack und Wanderstiefeln, Reisebekanntschaft im Zug nach Nagykanizsa, der Wie groß der Anteil jüdischer Architekten und Bauherren an der 1865 eröffneten Ringstraße ist, zeigte bis 4. Oktober eine von Gabriele Kohlbauer-Fritz in Zusammenarbeit mit Sabine Bergler kuratierte Ausstellung des Wiener Jüdischen Museums. Das opulente, zweisprachige Begleitbuch versammelt zwölf Beiträge österreichischer HistorikerInnen über die Architekten, Bauherren, die Hotels und die jüdischen Familien, die in den prachtvollen Palais der Ringstraße lebten. Laut Werner Hanak-Lettner war der 1858 eingeweihte Leopoldstädter Tempel „in gewisser Hinsicht das erste Ringstraßengebäude“ und „seine orientalisch-historisierende Architektur [stand] bereits voll im Zeitgeist der Ringstraße“. Die Votivkirche am Schottenring, für die auch zahlreiche jüdische Spender überliefert sind, und der Leopoldstädter Tempel haben gemeinsam, dass beider Grundstein vom Ölberg in Jerusalem stammte. Gabriele Kohlbauer-Fritz beschreibt in ihrem Beitrag über Familiengeschichten die Salonkultur, Tragödien, Krankheiten und Taufen 72 ZWISCHENWELT der Familien Lieben, Todesco, Ephrussi und Gutmann. Elana Shapira bezicht in ihrem Aufsatz „Moses und Herkules. Der Beitrag des jüdischen Bürgertums zur Gestaltung der Ringstraße und des Praters“ mit ihrer Interpretation der Novelle „Seligmann Hirsch“ von Ferdinand von Saar auch die Literatur mit ein. Louise Hecht ruft eine Besonderheit des philanthropischen Engagements ins Gedächtnis, eine Freiwohnung für Dichter, die Friedrich Schey in seinem Palais einrichtete. Sie wurde von Salomon Hermann Mosenthal und Ludwig August Frankl in Anspruch genommen. Georg Gaugusch erstellte für das Buch eine umfangreiche Liste des jüdischen Hausbesitzes im ersten Bezirk. Ruth Heidrich-Blaha stellt in ihrem Beitrag über Wohlstandseinrichtungen der Ringstraßenära die zeitgleich entstandenen sozialen Institutionen der Kultusgemeinde vor (darunter das israelitische Mädchenwaisenhaus in der Ruthgasse, das israelitische Knabenwaisenhaus in der Goldschlagstraße, das israelitische Autorin mitteilt, was ebenfalls in die persönlich gehaltene Darstellung einfließt. Die Tagebücher Arthur Schnitzlers, jene enormen Zeugnisse des Erinnerns, dienten der Autorin offenkundig als Leitfaden für den entsprechenden Teil des Buches, die Werke selbst und ihre Entstehungsbedingungen kommen bei ihr eher umrisshaft vor. Reinhard Urbach hat bereits kritisiert, dass sie dabei Schnitzlers Roman „Der Weg ins Freie“ vergessen hat (Presse, 26.6.2015). Das fällt besonders ins Gewicht, da der Dichter darin, aus eigenen Erfahrungen und Erlebnissen schöpfend, die verschiedenen Facetten jüdischen Lebens in Wien sowie den Antisemitismus behandelt hat. Analyse von Zusammenhängen und bibliographische Genauigkeit gehören nicht unbedingt zur Methodik von Jutta Jacobi, die als Reporterin durch das Geschehen springt, dabei manches überspringt oder nicht weiter verfolgt, sich zugleich aber mit ihrem Thema identifiziert, ja in ihm lebt. In ihrer Euphorie des Erzählens wandert sie dabei häufig in die Plauderei ab, wobei jedenfalls viel über die Familie Schnitzler zu erfahren ist. Das Werk Arthur Schnitzlers wird in der Rezeption heute nicht mehr wie selbstverständlich von der jüdischen Geschichte abgetrennt, was zu neuen Erkenntnissen wie Legenden geführt hat. Dennoch wirkt die Perspektive eines solchen Buches noch immer ungewöhnlich, und das wiederum vermag viel über die gegenwärtigen Verhältnisse zu erzählen. Peter Roessler Jutta Jacobi: Die Schnitzlers. Eine Familiengeschichte. St. Pölten, Salzburg, Wien: Residenz Verlag 2014. 294 S. € 24,90 Lehrlingsheim in der Griinentorgasse und das israelitische Blindeninstitut auf der Hohen Warte). Zu bedauern ist dabei nur, dass dadurch ein wichtiges Thema fiir eine eigene Ausstellung, fiir das es so viel mehr Dokumente und Archivalien gabe, vorweggenommen wurde. Auf S. 259 findet sich ein Lektoratsfehler; auf S. 200 ein sachlicher: Es war nicht Karl Lugmayer, sondern Cyrill Fischer, der 1934 im Hotel de France den Vortrag „Wie sicht der Katholik das jüdische Volk?“ hielt. Unverständlich ist weiters, warum bei der auf S. 244 erwähnten Fernsehserie „Ringstraßenpalais“ deren Autor, Hellmut Andics, nicht erwähnt wurde. Fine Unsitte ist es auch, Bücher zu zitieren, die noch nicht erschienen sind, ohne die entsprechenden Hinweise. Die Ringstraße ist ein bis heute faszinierendes und bestauntes Gesamtkunstwerk; nun wurde endlich auch der große jüdische Anteil an ihrer Errichtung beschrieben, der bei ihrer touristischen Vermarktung, wie Dieter J. Hecht festhält, kaum beachtet wird.