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Robert Streibel hat sich in einer Detailstudie der Geschichte eines Ringstraßenpalais mit einer sehr wechselvollen Geschichte angenommen. 2003 entschied die Schiedsinstanz für Naturalrestitution des österreichischen Nationalfonds, dass das Palais in der Weihburggasse 30 an die Familie Schnabel zu restituieren sei. Die neuen Eigentümer gaben den Auftrag für Streibels Studie. Das Palais wurde vom berühmtesten Architekten des jüdischen Wien, Wilhelm Stiassny, erbaut. Auftraggeber für den Bau war der aus einer Prager jüdischen Kaufmannsfamilie stammende Gewebe- und Garnhändler Gottlieb Schwab, der 1871 nach Wien übersiedelte. In Wien wurde Schwab bald ein wohlhabender Industrieller, wie sich an den von Streibel zitierten Spendenlisten für diverse Institutionen ablesen lässt. Ab 1885 war er auch Abgeordneter zum Reichstag. Schwab starb kinderlos 1882. Der zweite Besitzer des Palais war Freiherr Johann von Liebig, der ebenfalls aus Böhmen stammte. Streibel spekuliert, dass im Souterrain ein Freimaurertempel vorgesehen gewesen sei, kann dies jedoch mangels Quellen nicht beweisen. Aus der dritten Besitzerfamilie stammte Johanna Schnabel, die Mutter des Schriftstellers Hermann Broch, die in Theresienstadt starb. 1939 übernahm die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung das Haus. Bis 2003 residierte darin das Landesarbeitsamt. Am Ende seines Vorworts schreibt Streibel: „Ein Haus, drei Familien, unzählige Geschichten und trotzdem noch viele offene Fragen.“ Ein Fehler ist zu korrigieren: Adolf Jellinek war nicht Präsident, sondern Prediger der Israelitischen Kultusgemeinde. EA. Gabriele Kohlbauer-Fritz (Hg): Ringstraße. Ein Jüdischer Boulevard. A Jewish Boulevard. Wien: Amalthea 2015. 342 S. € 29,95 Robert Streibel: Bürokratie & Beletage. Ein Ringstraßenpalais zwischen „Arisierung“ und spätem Recht. Wien: Mandelbaum 2015. 192 5. € 19,90 Neben Pierre Brossolette und Jean Zay wurden Genevieve de Gaulle-Anthonioz und Germaine Tillion am 27. Mai 2015, dem Tag der Resistance, im Pantheon aufgenommen. Die symbolische Überführung ihrer sterblichen Überreste ins Pantheon, den weltlichen Tempel der französischen Republik, in dem viele bedeutende Persönlichkeiten ihre letzte Ruhestätte fanden, erinnert an die Verdienste aller Frauen, die gegen das Vichy-Regime und die Besatzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten Widerstand leisteten. Genevieve de Gaulle-Anthonioz, die Nichte des späteren Staatschefs Charles de Gaulle, überlebte die Deportation nach Ravensbrück. Nach dem Krieg schuf sie die bekannte Sozialorganisation Agir Tous pour la Dignité Quart Monde (ATD), kampfte ein Leben lang gegen totalitäre Systeme, war Präsidentin der International Movement ATD Fourth World und erhielt als erste Frau das Großkreuz der Ehrenlegion. Einblick in die Arbeit und das Leben ihrer Freundin, Germaine Tillion, die 2008 im Alter von 100 Jahren verstarb, gewähren nunmehr ihre im AvivA Verlag (Berlin) unter dem Titel Die gestohlene Unschuld herausgegebenen „Fragments de vie“. Diese Fragmente legen beredtes Zeugnis über eine außergewöhnliche Persönlichkeit und ein ungewöhnlich langes Leben ab, „dessen rote(r) Faden in der leidenschaftlichen Neugier auf das Leben und dem engagierten Einsatz für ein humanistisches Ideal bestand“, wie Mechthild Gilzmer in ihrem einführenden Essay schreibt. Ausgewählt hat diese Texte Tzvetan Todorov. Er hat sie chronologisch angeordnet und mit dem Titel „Fragments de vie“ versehen, einer Formulierung, die, wie er im Nachwort ausführt, dem Geist und dem Stil der Autorin treu bleibt. Es sind Aufzeichnungen, die humorvoll und anschaulich Tillions mutigen und bewegten Lebensweg nachzeichnen: von ihrer Arbeit als Ethnologin in Algerien über ihren Widerstand gegen den Faschismus, über Gefängnisaufenthalt und Deportation ins KZ Ravensbrück bis zu ihren Aktivitäten gegen den Algerienkrieg und gegen Folter. Geboren wurde Germaine Tillion am 30. Mai 1907 in Allégre in der Auvergne. Sie wuchs in einer Atmosphäre der Bildung, Kunst und Literatur auf: Ihr Vater, als Friedensrichter tätig, war leidenschaftlicher Fotograf und ihre Mutter Schriftstellerin und Journalistin. In Paris begann sie ein breitgefächertes Studium, das in die noch junge Disziplin Ethnologie mündete und ihr ein Stipendium zur Erforschung des Stammes der Chaouia im Aurés-Gebirge im Osten Algeriens verschaffte. Als eine der ersten Forscherinnen eroberte sie sich damit einen Raum, der Frauen zu jener Zeit keineswegs offenstand. Dank ihrer Unvoreingenommenheit konnte sie sich den Fremden, auch der patriarchalischen Welt der Berber 6ffnen und wichtige Erkenntnisse in ihrer Feldstudie sammeln. Denn, so lässt uns Germaine Tillion wissen, „die Ethnologie ist ... zunächst ein Dialog mit einer anderen Kultur. Außerdem ein Infragestellen der eigenen Position und der des Anderen und wenn möglich eine Gegenüberstellung, bei der beide Positionen eine Veränderung erfahren.“ Als Germaine Tillion nach fast sechsjähriger Abwesenheit im Juni 1940 nach Paris zurückkehrt, wird Frankreich gerade von der deutschen Wehrmacht besetzt. Sie beschließt, in den Widerstand gegen das deutsche Besatzungsregime sowie gegen die mit ihm kollaborierende Vichy-Regierung zu gehen. Sie habe aus Patriotismus, quasi ohne weiter zu überlegen, sofort Widerstand geleistet, meinte sie rückblickend: „Vielleicht ist es mit dem Vaterland wie mit der Luft: Man spürt beide erst, wenn sie einem fehlen.“ Zwischen Juni und Oktober 1940, wie Germaine Tillion in ihren Aufzeichnungen berichtet, baut sie mit Gleichgesinnten eines der ersten funktionierenden Netzwerke der Resistance auf, das sie nach dem Krieg als Widerstandsgruppe des Musée de Homme bezeichnete. Im August 1942 wird sie von einem Agenten der Gestapo denunziert und zusammen mit ihrer Mutter verhaftet. Beide wurden im Oktober 1943 ins KZ Ravensbriick deportiert. Dort hilft sie ihren Leidensgenossinnen, gegen die Mechanismen des Terrors gewappnet zu sein und schreibt heimlich eine beklemmende Revue in Form einer Operette, die unter dem Titel Ze Verfügbar aux enfers anlässlich ihres 100. Geburtstages 2007 uraufgeführt wurde. „Verfügbar“ - so lautete ihr Status im Konzentrationslager Ravensbrück. Uber ihre Zeit in der Hölle Ravensbrück, in der ihre Mutter Anfang März 1945 vergast wird, hat Germaine Tillion ein aufrüttelndes, das perfide Lagersystem minutiös beschreibendes Buch verfasst: „Was mich gleich interessiert hat, war das, was mir die politischen Gefangenen berichteten. Wenn ich das alles zuammensetzte, entstand ein Bild, was das Lager von Ravensbrück in ökonomischer Hinsicht bedeutete: nämlich eine Zentrale, die sehr viel Geld einbrachte auf der Grundlage der Ermordung der inhaftierten Frauen.“ Nach ihrer Befreiung stellte Germaine Tillion mit Akribie umfassende Studien zu Krieg, Widerstand und Deportation zusammen und musste bei einem Prozess gegen das Wachpersonal von Ravensbrück die Grenzen der Gerichtsbarkeit erfahren. Mitte der 1950er Jahre kehrte sie im Auftrag der französischen Regierung nach Algerien zurück. Dort setzte sie sich für die Verbesserung der Lebensverhältnisse über die Einrichtung von „Sozialen Zentren“, die später ihrer Zielsetzung entsprechend „Soziale Bildungszentren“ genannt wurden, und für die Deeskalation von Gewalt auf beiden Seiten ein. Gegen Folter und Unterdrückung wandte sich Germaine Tillion vehement: „Es sind meine Landsleute, Menschen, die mir nahe stehen und mit denen ich mich verbunden fühlte. Und doch: Was sich vor meinen Augen abspielt, ist offensichtlich: In Algerien werden die Praktiken der Nazis angewandt.“ Noch im Jahre 2004 beteiligte sich Germaine Tillion gemeinsam mit anderen französischen Intellektuellen an einem Aufruf gegen die Folter im Irak. Im gleichen Jahr rief sie in einem Appell an die junge Generation zur Rebellion gegen Dezember 2015 73