OCR
soziale Ungerechtigkeiten auf. Gemäß ihrem Lebensmotto „Ich mische mich ein“ war es ihr eine Herzensangelegenheit, für die Rechte der Frauen im Mittelmeerraum einzutreten und Aufklärung Religionen gegenüber zu betreiben, die an der Unterdrückung der Frauen festhielten, denn, so ihr Credo: „Wissen hilft zu leben“. Wer mehr über Germaine Tillion erfahren möchte, dem sei das Buch Die gestohlene Unschuld unbedingt zur Lektüre empfohlen. Mit diesem Buch liegt ein großes und beeindruckendes Dokument menschlicher Integrität und Zivilcourage einer geistreichen und engagierten Frau vor uns, denn zu keiner Zeit, weder als Forscherin in Algerien noch als Résistance-Kämpferin, noch im Konzentrationslager „in unserer küche steht ein buchentisch/ den treibt es nach allen seiten“, heißt es in einem Gedicht von Max Czollek in der neuen Ausgabe von „Jenny“, dem Literaturmagazin des Instituts für Sprachkunst in Wien. „DenkenBehaupten-Groftun“ ist sowohl Untertitel als auch Credo der Publikation und tatsachlich: Diese drei Nominalisierungen, also diese jedenfalls großgeschriebenen Wörter, die vielleicht Nomen sind, beschreiben ihren Inhalt sehr gut. Jenny bewegt sich nach allen Seiten. 18 AutorInnen, der älteste 1981 geboren, präsentieren Prosaisches, Essayistisches, Dramatisches und Poetisches, dies in einem preisgekrönten Layout (Staatspreis „Schönste Bücher Österreichs“ in der Kategorie Spiel&Spaf 2013), in gut lesbarer Schriftart, mit kecken Zwischenblattern und ohne Seitenangaben. Letzteres ist wohl der Unabgeschlossenheit, die die Herausgeber im Editorial für sich und ihr Magazin in Anspruch nehmen, geschuldet. Kommt man über das Vorwort des Institutsvorstandes Ferdinand Schmatz („Nichts kommt aus Nichts“) hinaus, dessen Wortakrobatik ein bisschen an Martin Heidegger (das „nichtende Man setzt an etwas zu beschreiben, etwas zu schnüren mit Worten, auf dass es auch andere etwas angehen kann; Sprache kann sagen: So ist es. Und wenn es nur gut genug gesagt ist, wird aus dem „So ist es“ die Karte des Universums. Doch Sprache kann nicht ändern, was geschehen ist; kein gesprochenes oder geschriebenes Wort vermag Materie zu gestalten (der alte Traum der Magie, des Zauberspruchs) — ein Wort kann nur im Inneren, im Geist, im Verstand, eine Veränderung bewirken, einen neuen Ansatz eingeben, eine Idee manifestieren, etwas in Erinnerung rufen; das kann Einfluss auf unsere Entscheidungen haben, die jeder bewussten Tat vorangehen. Ein Wort, das etwas zu vermitteln, zu kommunizieren versucht, egal ob es in einem Essay, einem Gedicht, einem Geschichtswerk, einer Anleitung, einem Nachschlagewerk oder einer religiösen Schrift steht, ist immer mit der Hoffnung geschrieben, die auf eine Zukunft verweist, in der ein Leser es liest und aufnimmt in sein Verständnis, die dem Schreibenden eine Erkenntnis war, ein Wissen, eine Vorstellung. 74 ZWISCHENWELT Nichts“) erinnert, werden dem oder der LeserIn humorvolle, selbstreflexive und experimentelle Texte dargeboten. Sie verbindet eine gewisse Leichtigkeit und die Reflexion der eigenen Lebenswelt. Das Hipster-Leben in Berlin wird ebenso verhandelt wie eine tote Katze oder ein Eifersuchtsgefühl. Gerade dann, wenn der Eindruck entsteht, dass der eine oder andere Text sich nicht aus diesem nicht immer amüsanten, sicheren Feld von Metawitz, Selbstreferentiellem und Ironischem lösen kann, stößt man auf Beiträge, die genau dies tun. Etwa auf das Gedicht „Wie ich in dieser Küche“ von Gianna Virginia. Es erinnert, die Schreibhaltung bedenkend, an Verse der jungen Ingeborg Bachmann, in denen es heißt: „Darum bin ich stets nur eines/ Ich bin immer ich/ Steig ich, so steig ich hoch/ Falle ich, so falle ich ganz“. Oder auf „AUSSEN/TAG“ von Saskia Warzecha, die in einer kurzen Szene den poetischen Raum zwischen Schreiben und Film auslotet. Einige Texte nehmen — mehr oder weniger direkt — auf die Produktionsbedingungen der Schriftstellerei Bezug. Es wird Kritik am Literaturbetrieb und seiner Kompetitivität geübt. So Aber was ist mit dieser Hoffnung, wenn wir uns den Themen nähern, die wirklich und eigentlich Themen der Materie sind, Themen, in denen die Materie ihre erbarmungslose Unabhangigkeit von allem Emotionalen und Erfinderischen beweist. Themen wie Liebeskummer, Unfälle, Verbrechen; wenn etwas nicht da ist, was man will; wenn etwas geschehen ist, das man nicht geschehen sehen wollte; wenn etwas zerstört wird, verschwindet, endet. Wenn esan den Tod geht. Ich war unzählige Male diesen Waldweg gegangen, nun war es, als ginge ich ihn zum ersten Mal. Als käme ich von langer Reise aus einem unbekannten Land, aus dem es nichts zu berichten gab, und würde nun versuchen, irgendwie da zu sein. Zumindest mein Schatten war es. Wenn ich zitterte, wenn die Angst aus dem Nichts kam, um mich aufzufressen, dann bedeutete das, dass etwas hier war, das mehr war als nichts. Etwas war da. Dieses Etwas war vor kurzem noch ich gewesen. Etwas war ausgelöscht und ging nun als etwas anderes, als jemand anders durch den Wald. (S. 40) und auch nicht während des algerischen Unabhängigkeitskrieges gab sie den Glauben an die Menschheit auf. Christiana Puschak Germaine Tillion: Die gestohlene Unschuld. Ein Leben zwischen Resistance und Ethnologie. Berlin: AvivA 2015. 336 S. € 22,fragen sich Figuren eines Dramoletts „Warum jetzt auf einmal alle schreiben... “, wird in einem Interview die sogenannte „Junge Literatur“ als Marktgag enttarnt oder das immerschon vom Buchmarkt Beeinflusst-Sein reflektiert. Der eingangs zitierte Max Czollek behandelt in seinen „Barbarossa“-Gedichten auch den Zweiten Weltkrieg: „und wir haben gedacht alle menschen/ mit blonden haaren/ hätten den krieg verloren// strahlende augenfarbe auf der wir/ mit einem tretboot paddeln/ fische kitzeln am bauch// schwäne sehen ihre vom hals/ getrennten körper auf der suche/ nach weizengeschossen// wir tragen kopfhörer/ runde klammern um die augen/ dann ist das alles nur halb gemeint“ Ernst genug? Mutig und unbeschwert jedenfalls. Thomas Wallerberger Johanna Kliem, Norbert Kröll u.a. (Hg.): JENNY. Denken, Behaupten, Groftun. 2015: Berlin, München, Boston: Walter de Gruyter 2015. In Wien in folgenden Buchgeschäften erhältlich: Frick International, Morawa und in der Lia Wolf Buchhandlung. Schon, wenn der Protagonist von Wolfgang Hermanns Buch „Abschied ohne Ende“ einsetzt, befinden wir uns im Ausnahmezustand. Das offenbart sich in Stil, Wortwahl, Ausdruck und Inhalt. Eine nicht zu fassende Gegenbewegung scheint jeden Satz schon während seiner Formulierung zurückzuweisen; der Text schreitet in kurzen, den langsamen Schritten zurück ins Leben gleichenden Kapiteln voran; ein epischmattes Ansetzen reißt den Leser an sich und wendet sich dann doch wieder ab und verliert sich, immer wieder im Versuch sich zu verdichten; Analogien und Metaphern wie Schatten für Abwesenheit, Licht für Leben, dazu phrasennahe Weisheiten, machen ein sehr einfaches, unscheinbares Kreuz auf der Pupille, kommen direkt auf den Punkt und öffnen doch ihre Bilder sehr, sehr weit, sodass man zunächst nur versuchen kann, das zu tun, womit auch der Protagonist, ein Vater, sich konfrontiert und beschäftigt sieht: zu begreifen. Zu begreifen: sein Sohn ist tot. ganz plötzlich, über Nacht, im Schlaf. durch Fieber und