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auch andere, einen zum Beispiel nach 299 Seiten: „Der Bischof aus dem Kosovo — Amfilohije (Radovic) - ist ein bekannter Scharfmacher gegen die Albaner, von denen er nur als von ‚Poturice‘ ‚Vertürkten‘, spricht. Schon seit Beginn der 80er-Jahre taucht er auf nationalistischen ‚mintinzi‘ (Meetings) auf und begeistert das einfache Volk. Die Kampagnen der Orthodoxen Kirche ‚zum Schutz des Serbentums gegen den geplanten Genozid‘ gehen aufihn zurück. Er ist ein naher Verwandter des DDS-Führers Kostunica und gilt als dessen Berater. (...) Amfilohije predigt ein einfaches Weltbild: Es gibt nur Feinde und Verräter. Serben oder Volksschädlinge. Heerscharen von Satanen sind weit und breit gegen das serbische Volk unterwegs“. (299) — Und ich frage mich, warum dieser orthodoxen Kirche („Schlachtenfeldbesucher und Waffensegner“, so die Autorin) nicht nur bei Seyr so wenig Platz eingeräumt wird und wurde, sondern in der gesamten westlichen Berichterstattung bzw. Propaganda über Jugoslawien und Serbien. Im 11. Brief vom Juni 1993 kommt Seyr erstmals auf jenes Ereignis zu sprechen, von dem bis heute außerhalb Serbiens, insbesondere in den deutschsprachigen Ländern, behauptet wird, dass es das Legen der Lunte ans jugoslawische Pulverfass bedeutete, „der berüchtigten Rede von Milogevié bei der 600-Jahr-Gedenkfeier auf dem Amselfeld am 28.Juni 1989, bei der er ‚weitere bewaffnete Kämpfe‘ ankündigte“. Das, so Seyr, war „Milosevids anfangs nur verbale Aggression“. (125) „Unter dem Jubel der Serbenmillionen versprach er ‚die zweite Rückkehr in das Kosovo‘ und sagte ‚Blut und weitere Kämpfe‘ voraus“. (383) Auf Seite 308 findet man noch ein weiteres angebliches Zitat aus dieser Rede, die für die Autorin beweist: „Milosevid wechselte die Fronten, vom Kommunismus sprang er auf den Zug des Nationalismus auf und setzte sich an die Spitze des großserbischen Nationalismus.“ (229) Das ist die in unseren Breiten seit mehr als zwei Jahrzehnten gängige Sprachregelung, der auch Seyr folgt. Nun kann davon ausgegangen werden, dass Seyr diese Rede gar nicht kennt. „Die etwa 15 Minuten dauernde Ansprache von Milosevic“, so heißt es beispielsweise eingangs auf Wikipedia, „wurde offenbar trotz ihrer absehbaren Relevanz als historische Rede weder von den Fernseh- und Rundfunkanstalten in Serbien, noch von denen in Deutschland oder Österreich komplett als Ton- oder audiovisuelles Medium archiviert, so dass ein sorgfältiger Vergleich der bestehenden Fragmente und Fassungen notwendig ist, um die tatsächlichen Äußerungen Milosevies von den Gerüchten zu trennen.“ Die erste deutsche Übersetzung, oder sagen wir besser Fassung, denn sie erwies sich bald als ziemliche Verstümmelung, erschien zehn (!) Jahre danach in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ am 28. Juni 1999, also zwei Jahre nach Beendigung des Seyr’schen Belgrad-Aufenthalts. (Eine serbokroatische bzw. serbische Fassung gab’s bis 1998, soweit ich eruieren konnte, lediglich in der Belgrader Zeitung „Politika“ vom 29.6.1989.) Bis 1999 hatten alle deutschsprachigen Mainstream-Journalisten nachgeplappert, was ihnen die Nachrichtenagenturen als angebliche Zitate geliefert hatten. Und manche tun das bis heute. Es handelt sich dabei zumindest um eine eklatante Verletzung aller „journalistischen Sorgfaltspflicht“ durch die breite Masse der Journalisten, die ich nun auch der Buchautorin Seyr vorhalten muss. Wenn man nur einen kurzen Blick aufhttp://de.wikipedia. org/wiki/Amselfeld-Rede (abgefragt 2.1.2015) wirft, wird man nicht nur feststellen, dass es sich um keine Serbenexkulpierungsseite handelt, sondern auch, dass selbst die verstiimmelte Version der FAZ eine Rede zu Tage fordert, die all das nicht halt, was die Hetzer versprachen (Scharping, deutscher Verteidigungsminister, 1999: „An diesem Tag sprach MiloSevi¢ von ‚Groß-Serbien‘ und davon, dass dieses Land ein ethnisch reines sein solle“). Hingegen Milosevie laut FAZ: „Niemals in der Geschichte war Serbien nur von Serben bewohnt. Heute mehr als jemals zuvor leben hier Bürger aller ethnischen und nationalen Gruppen. Dies ist kein Handikap für das Land. Ich bin aufrichtig davon überzeugt, dass dies ein Vorteil ist... (...) Der Sozialismus als eine progressive und demokratische Gesellschaftsform darf eine Trennung nach Nationalität und Religion im Zusammenleben nicht erlauben. Der einzige Unterschied, der im Sozialismus erlaubt ist, ist der Unterschied zwischen arbeitenden Menschen und denen, die nichts tun, zwischen ehrenhaften und unehrenhaften Menschen. Deshalb verdienen alle, die in Serbien rechtschaffen von ihrer Arbeit leben, den Respekt der anderen. (...) Jugoslawien ist eine multinationale Gesellschaft und kann nur auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung aller hier lebenden Nationen überleben ...“ Der allseits geächtete „Großserbe“ Milosevid machte es seinen Kritikern also nicht so einfach, wie auch Seyr ihre Leser glauben machen will. (Und man muss diesem Politiker ansonsten natürlich weder in seiner Auffassung von Sozialismus noch von historischem Verständnis folgen oder seine politischen Winkelzüge goutieren.) Hingegen Seyr, 26.Brief, 27.11.1995: „Milosevie hat versprochen, eine tausendjährige Ordnung zu schaffen, einen Staat, in dem sich Volk und Staat decken würden - einen Volksstaat unter seiner weisen Führung. Hat man das nicht schon einmal gehört?“ (308) — Natürlich! Tausendjähriges Reich! MiloSevi¢ als Hitler — endlich, ist man versucht auszurufen, ist es so weit. Nur, leider gibt es bei Seyr nirgends ein Zitat, einen Nachweis eines derartigen Spruchs. Und der ebenfalls nicht ins Seyrsche Propagandabild passende Umstand, dass dieser Obernationalist im Unterschied zu all den untadeligen „nationalen Befreiern“ ringsum Antisemitismus und Antiziganismus weder förderte, noch benutzte, ist Seyr nicht nur kein Rätsel, sie bemerkt solcherlei Umstände gar nicht. Es drängt sich Karl Kraus vor hundert Jahren, 1915, auf: „Wie wird die Welt regiert und in den Krieg geführt? Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie’s lesen.“ Ich schließe mit einer Ungeheuerlichkeit: „An einem anderen, späteren, den Serben heiligen Veitstag, dem 28. Juni des Jahres 1914, stand der 18-jährige Student Gavrilo Princip im Spalier an der Lateinerbrücke in Sarajevo und gab die verhängnisvollen Schüsse auf den österreichischen Ihronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau Fürstin Sophie von Hohenberg, geb. Gräfin Chotek, ab. Sie haben drei Weltreiche einstürzen lassen und nach den zwei Toten von Sarajevo noch einmal 20 Millionen gefordert.“ (383) — Princips Schüsse haben also 20 Millionen Tote gefordert. Zu Beginn ihres Textes sprach Seyr einmal gar verächtlich von „Gavrilo Princip und Konsorten“! (55) Weit haben wir’s gebracht, hundert Jahre nach diesen Schüssen und fast hundert Jahre nach den „Letzten Tagen der Menschheit“! Statt an Karl Kraus auch nur zu denken („Ein Serbien, das keineswegs schuldig einer Tat war, auf der sich eben dieses greise Österreich bei kaum gehemmten Jubelgefühle frisch ertappen ließ“; Die Fackel, 25.1.1919), lässt Seyr unter den Tisch fallen, dass BosnienHerzegowina grade erst sechs Jahre davor von Österreich (gemäß dem „Völkerrecht des Stärkeren“) annektiert worden war und sich der Herr 'Ihronfolger just am „heiligen Tag“ der Serben provokant durch Sarajevo kutschieren ließ. Mit „kritischer“ Attitüde zieht sie über „die Serben“ und andere her, um bei Ideologieprodukten wie vor hundert Jahren zu landen. Über Handke hingegen lästert Seyr: „Er lässt sich am Nasenring vorführen, ohne es zu merken. Bekenntnisse zu den österreichischen Verbrechen am Balkan von der Okkupation Bosniens über den Ersten und Zweiten Weltkrieg bis zur aktiven Beteiligung an der Zerstörung Jugoslawiens gehen ihm locker von den Lippen und werden dankbar entgegen genommen.“ (330) - Ist ihr eigentlich noch in Erinnerung, dass nur wenige Jahre vor ihrem und Handkes BelgradAufenthalt ein anderer Österreicher „nichts von alldem gewusst“ haben wollte und „nur seine Pflicht“ getan hatte am Balkan? Und zu seiner „Verteidigung“ auch noch „altösterreichischen Soldatengeist“ gepriesen hatte? Und solches will sie „den Serben“ -und wohl auch ihren eigenen Landsleuten — zu vergessen zumuten? Der Vorwortschreiber Wolfgang Petritsch bekundet: „Die Lektüre von Veronika Seyrs Abgesang auf Jugoslawien hat in mir jene unbeantwortbare Frage des WARUM? aktualisiert — keine schlechte Voraussetzung, aus der Geschichte doch zu lernen.“ (9) — Tatsächlich hat das Buch die Frage des Warum der Zerstörung Jugoslawiens aktualisiert, weil es darin keine Antworten darauf gibt, sondern nur die mehr als hundertjährige österreichische Serbophobie fortsetzt. Wenn allerdings die Frage nach dem Warum der Zerstörung Jugoslawiens unbeantwortbar ist, was sollen wir dann aus dieser Geschichte und aus einem Buch wie dem Veronika Seyrs lernen? Dezember 2015 81