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Peter Rychlo Vortrag im Jüdischen Gemeindezentrum Osnabrück am 24. Januar 2015, veranstaltet von der „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Osnabrück“ und von der „Alfred Gong Gesellschaft“ „Die Landschaft, aus der ich zu Ihnen komme“, sagte Paul Celan 1958 in seiner Bremer Rede, „dürfte den meisten von Ihnen unbekannt sein. Es ist die Landschaft, in der ein nicht unbeträchtlicher Teil jener chassidischen Geschichten zu Haus war, die Martin Buber uns allen auf Deutsch wiedererzählt hat. Es war, wenn ich diese topographische Skizze noch um einiges ergänzen darf, das mir, von schr weit her, jetzt vor Augen tritt, — es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten.“ Celan spricht hier von seiner Heimat Bukowina. Czernowitz, die Hauptstadt des am Vorfuße der Karpaten liegenden kleinen Landstrichs, das bis 1918 den Status eines Kronlands der Donaumonarchie hatte und nach ihrer Auflösung dem Königtum Rumänien angegliedert wurde, war Wiege vieler deutschjüdischer Autoren. In der Zwischenkriegszeit bildete sich hier eine Gruppe junger Literaten, deren geistiger Anreger Alfred Margul-Sperber war und aus der solch prominente Lyriker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Paul Celan oder Rose Ausländer hervorgingen. Davon, wie dicht die Konzentration der poetischen Substanz hier war, zeugt die Tatsache, dass drei dieser Czernowitzer Autoren den gleichen Jahrgang aufweisen und dieselbe Schulbank driickten — Immanuel Weißglas, Paul Celan und Alfred Gong. Dieses poetische Dreigestirn verkörpert heute jene Generation der Czernowitzer Dichter, die als junge Menschen durch grausame Prüfungen des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust gehen mussten, was tiefe Spuren in ihrem Werk hinterlassen hat. Ihre Lebenswege haben sich später, nachdem sie Czernowitz verlassen haben, sehr unterschiedlich gestaltet. Immanuel Weißglas, der sich als Übersetzer Eminescus und Arghezis sehr früh der rumänischen Kultur verschrieben hat, blieb in Bukarest. Paul Celan, der bereits vor dem Krieg mit einem Medizinstudium in Frankreich begonnen hatte, ging über Bukarest und Wien nach Paris. Alfred Gong verlegte nach einigen Bukarester und Wiener Jahren seinen Wohnsitz in die Neue Welt, nach New York. Psychologische und sprachliche Isoliertheit bestimmte jedoch ihre Existenz in der Verbannung bis zu ihrem letzten Atemzug. Wegen seiner räumlichen Entfernung und Abgeschiedenheit vom europäischen kulturellen Kontext gilt Alfred Gong bis heute als rätselhafteste Figur in dieser Triade. Obwohl seine Bücher seinerzeit in deutschen und österreichischen Verlagen erschienen, blieb er als Autor immer etwas abseits des allzu geschäftigen deutschsprachigen Literaturbetriebs. Dabei geht es wirklich um eine literarische Begabung von hohem Rang, die unter günstigeren Umständen zu großem dichterischen Ruhm gelangen hätte können — so aber ist sie dem breiteren Lesepublikum kaum bekannt und heute fast vergessen. Umso mehr ist es an der Zeit, diesen großartigen Dichter aus dem Schatten herauszuholen und den heutigen Lesern vorzustellen. Alfred Gong, der mit seinem eigentlichen Namen Alfred Liquornik hieß, wurde am 14.8.1920, zwei Jahre nach der Auflösung der Habsburgermonarchie, zu der die Bukowina seit 1775 gehört hatte, in einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie in Czernowitz geboren. Zu seiner Geburtszeit war dieser Landstrich schon Bestandteil des Rumänischen Königreiches. Seine Eltern Moses und Sali Liquornik verdienten ihr dürftiges tägliches Brot mit einem kleinen Farbengeschäft. Zu Hause sprach man deutsch, was von einem liberalen Geist der Assimilierung zeugt, obwohl man sich der jüdischen Herkunft wohl bewusst war. Trotz bescheidener materieller Verhältnisse gab es ein ukrainisches Dienstmädchen, das im Haushalt und bei der Erziehung der Kinder mithalf (Alfred hatte noch eine drei Jahre jüngere Schwester Herta). Oft sang es den Kindern ukrainische Volkslieder vor, erzählte ihnen Volksmärchen und huzulische Legenden, die der Junge mit angehaltenem Atem in sich aufnahm. Im Unterschied zu Immanuel Weißglas und Paul Celan, deren Eltern für ihre Söhne „liberale“ rumänische Lyzeen mit gemischter nationaler Zusammensetzung der Schüler gewählt hatten, wurde Alfred Gong auf das „Jüdische Staatsgymnasium“ geschickt. Die Unterrichtssprache war dort ebenfalls Rumänisch. „Der Lehrplan enthielt nichts Jüdisches, nur die Schüler waren Kinder jüdischer Eltern und sie empfanden die gewaltsame Konzentrierung in dieser Anstalt als ein aufgezwungenes Ghetto“? — schreibt dazu Hugo Gold. Immerhin durften dort jüdische Religionsstunden mit ein wenig Hebräisch angeboten werden. Die Diskrepanz zwischen der Muttersprache Deutsch und der „Stiefmuttersprache“ Rumänisch, wie er es später in einem Briefan Wolfgang Kraus charakterisierte?, sollte für ihn recht spürbar sein. Aus dieser Charakteristik geht hervor, dass er sich im Schoß rumänischer Sprache nicht wohl fühlte, umso mehr als der ausgesprochene Antisemitismus rumänischer Direktoren und Lehrer kaum verhüllt war. In den oberen Klassen des Gymnasiums beteiligte sich Gong an der Tätigkeit der jüdischen Jugendorganisation „Haschomer Hazair“ und leitete ihre Veranstaltungen. Dieses Engagement zeugt von einem stark ausgeprägten jüdischen Bewusstsein des Heranwachsenden, das sich bei ihm noch vor den tragischen Ereignissen des Holocaust herauszubilden begann. Nach der 1939 abgelegten Matura inskribierte sich Gong in Romanistik und Vergleichender Literaturwissenschaft der rumänischen Carolina-Universität Czernowitz für das Höhere Lehreramt. Seine Studienzeit dauerte allerdings nur zwei Semester. Es kam die Zeit großer geschichtlicher Umwälzungen — nach dem HitlerStalin-Pakt wurde die Nordbukowina 1940 sowjetisch. Zuerst hatte man aus dem Lande alle Deutschstämmigen umgesiedelt („heim ins Reich“). Ende Juni 1941 wurden dann Gongs Eltern und die Schwester als „Ausbeuter“ nach Sibirien deportiert. Als Sohn eines „volksfeindlichen Elements“ wurde er schon vorher von der Universität relegiert und als Grundschullehrer nach dem Dorf Unter-Stanesti, etwa 30 km von Czernowitz entfernt, geschickt. Der Deportation konnte er dank einem Zufall entrinnen, da er in der Nacht der Razzia bei einer Freundin übernachtet hatte.‘ Kurze Zeit nach den russischen Deportationen marschierten Anfang Juli 1941 die deutschen Einsatztruppen in Czernowitz ein, um die Stadt bald wieder ihren rumänischen Verbündeten zu übergeben. Auf Befehl von General Antonescu sollte die Bukowina „judenfrei“ werden. Man hat in Czernowitz ein jüdisches Ghetto eingerichtet, in der man die gesamte jüdische Bevölkerung Mai2016 5