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Robert Streibel Seit einem Jahr heißt die kleine Gasse von der Justizanstalt Stein entlang des Alauntalbaches zur Ringstraße Gerasimos Garnelis Gasse. Mit dieser Benennung hat die Stadt einen Vorschlag des Verfassers aufgegriffen und realisiert. Mit dieser kleinen Gasse, die anlässlich des Gedenkens des Massakers 2015 eingeweiht wurde, ehrt die Stadt Krems jenen griechischen Häftling, der wegen seines Widerstandes gegen den Nationalsozialismus im besetzten Griechenland eingesperrt worden war, 1944 nach Stein kam, das Massaker am 6. April 1945 überlebte und bis zu seinem Tod in Krems lebte.! Eine Straßenbenennung ist nicht nur ein ee ~ StraBenschild fiir den griechischen Widerstandskampfer G. Garnelis in Krems. Foto: R. Streibel Im Sommer 2015 war der griechische Ingenieur Axilleas in Krems auf Urlaub, er habe sich nicht zu viel erwartet, schreibt er und sich nicht einmal die Mühe gemacht, nach Schenswürdigkeiten vorab Ausschau zu halten, gibt er zu. Krems sei ihm halt ein Begriff, denn immerhin komme es ja in einer Novelle von Stefan Zweig vor. Bereits an dieser Stelle werden die literaturinteressierten kundigen KremserInnen stutzen. Stefan Zweig und Krems? Nie gehört, ist die prompte Antwort. Um diese Spur aufzunehmen, braucht es einen griechischen Ingenieur, der Krems besucht. Tatsächlich wird in der Erzählung „Buchmendel“ Krems erwähnt. Doch warum erreicht diese Erfahrung eines Griechen den Historiker? Weil es die Garnelis Gasse gibt. Der 40-jährige Ingenieur erkundet Krems. Als er am Abend ankommt, scheint ihm die Stadt verlassen (obwohl es noch gar nicht so spät ist: halb acht Uhr abends) und er befürchtet kein Lokal mehr zu finden, wo er auch noch eine Kleinigkeit essen kann. Am Dreifaltigkeitsplatz hat er Glück, und so kann er am nächsten Tag seine Erkundung beginnen. Er spaziert Richtung Stein und seine Aufmerksamkeit wird im Vorbeigehen unwillkürlich vom Straßenschild „Gerasimos Garnelis Gasse“ in Beschlag genommen. Wie elektrisiert sei er gewesen. „I felt like I found a bridge between my country and Krems which is worth crossing and of course learn about it.“ Da er nicht Deutsch kann, ist die Recherche nicht ganz einfach, er begreift, dass hier zu Kriegsende mehr als 300 griechische Häftlinge inhaftiert waren und nicht wenige beim Massaker am 6. April 1945 ermordet wurden. Zu Hause in Griechenland angekommen hat er mehr Zeit im Internet zu recherchieren, er findet einen Hinweis aufden Roman „April in Stein“ und schreibt dem Verfasser eine E-Mail. Axilleas hat bei seiner Suche in Griechenland auch einen weiteren Häftling gefunden, der als Geistlicher in einem Kloster lebt. In einem seiner E-Mails erwähnt Axilleas, warum er sich für seinen Besuch Krems ausgewählt habe — unter anderem habe auch Stefan Zweig mitgespielt, da in einer Erzählung doch Krems erwähnt werde. In der Zwischenzeit versucht Axilleas einen Freund zu überzeugen, den Roman in griechischer Übersetzung zu verlegen. Ein kleines Straßenschild kann ein Gedankentor zu einer neuen Welt eröffnen. Was verbirgt sich hinter diesem Tor. Zumindest ein unbekannter Raum: Gibt es tatsächlich eine Verbindung zwischen Stefan Zweig und Krems? Mein Interesse ist geweckt. Stefan Zweig und Krems Die Erzählung „Buchmendel“, erschienen im November 1929 in der „Neuen Freien Presse“, ist eine Geschichte über Erinnerungsarbeit und thematisiert im weitesten Sinne die Rolle des Intellektuellen in politischen Umbruchzeiten. Stefan Zweig flieht vor einem Regenguss in ein Kaffechaus und hat das Gefühl bereits ein Mal hier gewesen zu sein. „Aber je mehr ich den Willen vortrieb, diese Erinnerung zu fassen, desto boshafter und glitschiger wich sie zurück — wie eine Qualle ungewiss leuchtend auf dem untersten Grund des Bewusstseins und doch nicht zu greifen, nicht zu packen.“ Der Erzähler ärgert sich, weil er nicht sofort das Geheimnis entschlüsseln kann: „Nur einen winzigen Haken, das wusste ich, musste ich in die Hand kriegen, um dies im Schlamm des Vergessens Versteckte heraufzuholen.“ Als er das Hinterzimmer des Kaffeehauses betritt, fällt ihm alles wieder ein: „Und nur diese eine Sekunde lang musste ich den Blick nach innen wenden, hinter die Lider, und aufstieg schon aus dem bildnerisch erhellten Blut seine unverkennbare, plastische Gestalt. Ich sah ihn getreu so, wie er dort immer saß an dem viereckigen Tischchen mit der grauschmutzigen Marmorplatte, der allzeit mit Büchern und Schriften überhäuften. Wie er dort unentwegt und unerschütterlich saß, den bebrillten Blick unerweckbar starr auf ein Buch geheftet.“ Die Gestalt des Buchmendels taucht auf, der hier an diesem Tisch liest und mit Büchern handelt. Sein Wissen ist detaillierter als jeder Katalog und jederzeit abrufbar, er kennt Erscheinungsjahr und Verfasser, kann sich an Einband und Faksimiles erinnern. Am Tisch Jakob Mendels endet die Welt, wenn er liest, ist alles rund um ihn vergessen. Der Erzähler erinnert sich an Mendel, der zum Inventar gehörte „wie die alte Kirschholzkasse, wie die beiden arg geflickten Mai 2016 11