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Polozk, Lenin an der Flaniermeile. Foto: P. Adelsgruber 18-jährige Wirtschaftsstudent und Priesterseminarist Andrej erstaunt mich mit seiner umfassenden Kenntnis westlicher und östlicher Philosophen und einer respektablen Portion Lebensweisheit. Von Alkohol- und Drogenexperimenten „in der Jugend“ habe er zugunsten der Suche nach tiefergehenden Antworten Abstand genommen. Er pflegte Austausch mit einem griechisch-katholischen Geistlichen, empfand die russisch-orthodoxe Konfession dann als die richtige. „Das Priesterseminar in Witebsk ist aber schwach, Studenten und Lehrer sind oberflächlich und verstehen nicht viel“, erzählt er. Andrejs taktvoll vorgetragene Kritik am römischen Zölibat weist eine ältere Passagierin, die sich unserem Gespräch anschließt, vehement zurück. Im 12. und letzten Stock des heruntergekommenen Hotels Witebsk habe ich in dieser Nacht wohl mein bisher intensivstes Gewittererlebnis — stundenlang kreisen Blitz und Donner um die Betonburg an der Düna. Nach wochenlanger Trockenheit öffnet der Himmel seine Pforten. Das Zentrum der Stadt ist adrett hergerichtet und erinnert mit der großen barocken Kathedrale an polnische Kleinstädte. Der Originalbau der Kirche entstand ab dem Jahr 1744 und wurde im Jahr 1936 auf Geheiß Stalins gesprengt. Der Fluch der Tat habe den verantwortlichen Sprengmeister in die Psychiatrie getrieben. Der Wiederaufbau der Kirche fand im Jahr 2011 ihren Abschluss — nach ostkirchlicher Tradition wurde eine unterirdische Winterkirche und eine iiberirdische Sommerkirche errichtet. Auf meine Frage, warum man vom Barockstil, der doch an die ungeliebte griechisch-katholische Periode erinnere, nicht abgewichen sei, verweist eine Kirchenbedienstete auf die Kraft der Tradition: „Man kennt diese Kirche nur in dieser Gestalt. Und die Form ist ja nicht wichtig, es kommt auf den Inhalt an.“ Der Luxus des Neubaus stehe allerdings in keinem Verhältnis zum mageren Kirchenbesuch durch Gläubige. Angesprochen auf Spuren der jüdischen Gemeinde in der Stadt rümpft die Dame die Nase — Juden hätten Jesu Lehre zurückgewiesen und ihn ans Kreuz gebracht. In den zahlreichen Kellerbars trinkt man Bier aus aller Welt, jeden Sommer findet ein internationales Kulturfestival statt. Marc Chagall ist in seiner Geburtsstadt mit zwei Museen vertreten, dem Geburtshaus und der Galerie, in der ich per Zufall eine Wiener Historikerkollegin kennenlerne: Marie Kainzner hat die Reiselust ebenso zum „Weißen Fleck Europas“ zwischen Polen und Russland gebracht. Gemeinsam machen wir einen geführten Rundgang 16 _ ZWISCHENWELT durch das jüdische Witebsk. Unser Reiseführer Sergej verweist zunächst auf den hoch zwischen den Parkbäumen aufragenden Obelisk aus dem Jahr 1912. Zum 100-jährigen Jubiläum des Sieges über Napoleon errichtet, weist die Säule deutliche Schäden durch Granatsplitter des Zweiten Weltkriegs auf. Damit sind wir direkt in der dunkelsten Epoche der jüdischen Geschichte angelangt: Sergej führt uns zu einem Aussichtspunkt über der Düna und erzählt von dem schon im Juli 1941 eingerichteten jüdischen Ghetto am rechten Ufer des Flusses. Rund 16.000 Menschen wurden hier zusammengepfercht, kaum jemand überlebte. Die Massenerschießungen wurden von SS-Einsatzgruppen und Hilfspolizei am Stadtrand ausgeführt, im Oktober 1941 wurde das Ghetto aufgelöst. Insgesamt litt die Bevölkerung Weißrusslands wie keine andere unter dem Krieg, zwischen einem Viertel und einem Drittel der Bevölkerung kam um, hunderte Dörfer wurden niedergebrannt. Der weitere Rundgang führt uns in die Puschkin-Straße, vorbei an der ehemaligen Talmud-Thora-Schule, einer Einrichtung für die ärmeren Schichten, und am chemaligen jüdischen pädagogischen Technikum. Sergej erzählt von Marc Chagall und seiner Muse und Frau Bella Rosenfeld, mit der er in Witebsk, Paris und New York lebte. Auf die Frage, in welche Richtung sich Weißrussland in Zukunft orientieren werde, weiterhin nach Osten oder doch nach Westen, will er nicht so recht eingehen. Sein Hinweis auf den seltsamen Doppeladler an der Spitze des Obelisken erscheint salomonisch: Die Wappentiere aus zaristischer Zeit blickten aus unbekanntem Grund nicht nach Ost und West, sondern nach Nord und Süd. Minsk In Minsk beeindruckt den Besucher zunächst die Monumentalität stalinistischer Architektur, die mit den modernen Wohntürmen eine dynamische Symbiose eingeht. Richter man den Blick dann vom Himmel wieder auf die Erde, so fallen die sauberen Straßen und gehegten Parks auf: Zigarettenstummel sind auf den überbreiten Boulevards der Hauptstadt selten, Schlaglöcher werden verlässlich beseitigt — Frauen und Männer in oranger Arbeitskleidung kümmern sich beständig darum, dass alles v porjadke, in Ordnung, ist. Ich besuche das Newscafe in der zentral gelegenen