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Karl-Marx-Straße. Der Treffpunkt der besserverdienenden Minsker dient Viktor Martinowitsch in seinem dystopischen Roman Paranoia (2009) als Vorlage für das Cafe Schachmaty („Schach“). Der auch im Westen bekannte 38-jährige Autor beschreibt darin eine Gesellschaft im Würgegriff, zwischen Überwachung und staatlicher Willkür. Das Buch war zwei Tage lang in den Buchläden zu kaufen, dann verschwand es. Martinowitsch dachte an Auswanderung, widersetzte sich aber der eigenen Angst und blieb. Kehren wir noch einmal zur Frage nach Identitäten und Symbolen zurück und werfen wir dann einen Blick auf den Ausgang der Präsidentschaftswahlen. Mit der Abkehr vom demokratischen System nach westlichem Vorbild ließ Lukaschenko auch Wappen und Flagge entsorgen. 1995 kehrte man per Referendum zu den — graphisch und farblich fast unveränderten (immerhin wurden Hammer und Sichel durch eine schematische Darstellung der Staatsgrenzen abgelöst) — Symbolen aus Sowjetzeiten zurück. Und so kommt es, dass jene, die mit der Regierung Lukaschenko unzufrieden sind, ihre Haltung mitunter mittels Pahonja-Symbolik zeigen. Die Ordnungskräfte lassen das nicht immer ungeahndet: Erst jüngst wurden fünf Fußballanhänger aufgrund ihrer FanSchals, die den litauischen Reiter zeigten, für eine Nacht lang eingesperrt. Die offizielle Anklage lautete Widerstand gegen die Staatsgewalt und „Hooliganismus“. Das geschah am 12. Oktober anlässlich des Ländermatches Weißrussland — Mazedonien. Im Vergleich zu der Verhaftungswelle am Abend der Präsidentschaftswahlen des Jahres 2010 nimmt sich ihre Zahl bescheiden aus. Damals war es zu Massenprotesten gegen das fragwürdige Wahlergebnis gekommen, einige Demonstranten hatten dabei versucht, in das Regierungsgebäude einzudringen. Es kam zur Festnahme von 600 Personen, darunter waren auch sieben Oppositionskandidaten. Der bekannteste unter ihnen, Nikolaj Statkewitsch, kam erst im August 2015 aus der Haft frei. Dieses Mal verliefen Wahlkampf und Wahlabend im Gegensatz dazu harmlos und beschaulich: Apathie seitens der Opposition korrespondierte mit einer auffallenden Zurückhaltung von Seiten des Regierungsapparates: Der Präsident, so waren sich die Beobachter einig, wollte westliche Entscheidungsträger und potentielle Geldgeber milde stimmen (mit Erfolg, wie die kürzlich erfolgte Aufhebung der EU-Sanktionen zeigte). Die „Vertikale der Macht“, wie der allgegenwärtige Einfluss des Regierungsapparates bezeichnet wird, ließ den Amtsinhaber ohnehin gut schlafen. Zum Wahlgang im Oktober wurde mit der 38-jährigen Tatjana Korotkewitsch nur eine (gemäßigte) Oppositionskandidatin zugelassen. Das Wahlergebnis verwunderte niemanden, es stand, wie mir der einstige Weggefährte des Präsidenten und nunmehrige (ebenso bereits gefängniserprobte) Oppositionelle Alexander Feduta einige Tage vor dem Wahltag versicherte, schon vor der Auszählung fest: Seit den 1990er Jahren hält Lukaschenko stets bei einem Wert um die 80 Prozent, eine ebenso beneidenswerte wie suspekte Marge. Doch es ist nicht so, dass Lukaschenko aus freien Wahlen nicht auch als Sieger hervorgehen würde, unabhängige Umfragen bescheinigen ihm immerhin 40 bis 50 Prozent der Stimmen. Den meisten Rückhalt hat er im ländlichen Raum und unter der älteren Generation, die nicht zuletzt das aus Sowjetzeiten beibehaltene Sozialwesen zu schätzen weiß. Im Vergleich zu Krisenstaaten wie die Republik Moldau und die Ukraine steht Weißrussland, auch was die Realeinkommen betrifft, noch immer besser da. Doch das System steht auftönernen Füßen: Von der Wirtschaftskrise in Russland, dem wichtigsten Handels- und Finanzpartner, ist man direkt betroffen. Die Industrieproduktion stagniert, Entlassungen und das Zurückhalten von Gehältern - bisher ein Tabu — sind nun keine Seltenheit mehr. Dazu kam seit Juli 2015 ein Kursverlust der Landeswährung gegenüber dem Euro von 30 Prozent - zum Jahreswechsel erhielt man für einen Euro 20.000 Belarussische Rubel. Eine Friseurin hält mit ihrem Unmut über den „Landesvater“ nicht hinter dem Berg; „Unser Batka verspricht das Blaue vom Himmel, wir aber bekommen für unsere 60-Stunden-Wochen gerade einmal fünf Millionen im Monat“, rund 250 Euro. Ihre Kollegin nickt zustimmend. Bringt die Wirtschaftslage den Präsidenten unter Druck, so sind es außenpolitische Faktoren, die ihm derzeit noch in die Hände spielen. „Wenn es nur keinen Krieg gibt!“, lautet noch immer ein tiefsitzendes Credo im Land. Lukaschenko nützt der aktuelle Konflikt in der Ukraine in doppelter Hinsicht: Zum einen kann er mit der Warnung vor „Kiewer Zuständen“ unliebsame Aktivitäten seiner politischen Gegner untergraben. Zum anderen verstand er es, sich in den beiden Minsker Abkommen als unabhängiger Staatsmann zu präsentieren. Seine Kritik an der interventionistischen Außenpolitik Putins wurde auch als ausgestreckte Hand gegenüber dem Westen interpretiert. Zugleich ist sie Ausdruck einer als real eingestuften Angst, Belarus könnte vom Kreml wieder stärker an die Kandare genommen werden: Konkreter Anlass ist das Ansinnen Moskaus, eine Luftwaffenbasis im weißrussischen Bobruisk zu errichten. In der Ablehnung des Projekts hat sich Lukaschenko mittlerweile der Opposition angeschlossen, der Ausgang bleibt abzuwarten. Der moderne Niederflurzug bewältigt die 200 Kilometer zwischen Minsk und Vilnius in zweieinhalb Stunden. Die Klapptischchen vor den Sitzen sind durchgehend mit englisch-weißrussischen Reklameschildern für die in Vilnius situierte Europäische Humanistische Universität versehen. Das erstaunt, handelt es sich bei der Hochschule doch um eine regierungskritische Bildungseinrichtung, die 2004 auf Druck des Präsidenten ihre Pforten in Minsk schließen musste und im Nachbarland als weißrussische Exiluniversität ihre Tätigkeit fortsetzte. Ein weiteres Anzeichen einer Öffnung Richtung Westen? Die weißrussische Passkontrolle erfolgt erneut bereits im Zug, während draußen die Sicherungsanlagen der Schengengrenze nun in umgekehrter Richtung vorbeizichen. Mai 2016 17