OCR
bezeichnet. Und weil das scheinbar ganz gut zu passen scheint, wurde er zugleich auch als einer der elegantesten Politiker der Geschichte beschrieben, der noch dazu die Literatur Zeit seines Lebens geliebt hat. Diese Liebe hatte nicht nur eine Freundschaft mit Stephane Mallarm& ermöglicht, sondern den Minister auch oft in den Salon der Baronne Brault getrieben. Es heißt sogar, die beiden wären für kurze Zeit verheiratet gewesen'‘. Pierre Georges leitet seine Ausführungen mit einem kleinen literarischen Denkmal für Marya Delvard ein, der Botschafterin französischer Literatur in Russland, Polen, Mitteleuropa, Rom und Wien. Marya Delvard war seit 1933 Generaldelegierte der „Action Populaire des Ecrivains et Artistes de France“ in Österreich und Mitteleuropa, also des „groupe Franco-Viennois“.!7 Die Chanteuse, Diseuse und auch Zeitungsherausgeberin („La Revue Franco-Allemande“, Berlin um 1900) war 1874 als Marie Biller in Rixingen, Lothringen geboren worden. Als sie von 1930 bis 1939 in Wien lebte, war sie in Österreich schon lange keine Unbekannte mehr. So hatte sie 25 Jahre zuvor mit Ihrem Mann Marc Henry schon einmal in Wien gelebt und damals in der Ballgasse 6 „Das Nachtlicht“, das erste politische Kabarett Wiens betrieben. In den Jahren zuvor hatten sie schon in München das Kabarettlokal „Die Elf Scharfrichter“, mit Autoren wie Frank Wedekind und Hugo Bettauer als das erste seiner Art in Bayern eröffnet gehabt. Dass der Pariser Marc Henry ein solcher Kabarettgründer war, hing wohl damit zusammen, dass er als Chansonnier und Autor im „Chat Noir“ in Paris debütiert hat, dem ersten politischen Kabarett der Welt überhaupt."® In Wien leiteten beide nach anfänglichem Misserfolg schließlich von 1907 bis 1909 das eben eröffnete Kabarett „Die Fledermaus“, Ecke Kärntner Straße — Johannesgasse. Für die „Fledermaus“ schrieben damals Autoren wie Erich Mühsam, Peter Altenberg, Alfred Polgar, Egon Friedell. Von all dem erfährt man bei Pierre Georges nur wenig. Dafür führt er aber aus, dass die Bemühungen Marya Delvards um die Lyrik beider Länder ein wichtiger Beitrag zum Erhalt des Weltfriedens seien. So organisierte Marya Delvard in den 1930er-Jahren für den österreichischen Rundfunk durchaus beliebte Lesungen französischer Literatur.'? Auch sollen, Pierre Georges zufolge, alle möglichen Dichter Wiens zu Marya Delvards Vorträgen „geströmt“ sein. Gut möglich, dass auch Theodor Kramer unter ihnen war. Dass Marya Delvard in den Wiener KünstlerInnen-Kreisen als Berühmtheit galt, erfährt man dank der Briefe zwischen den beiden Freunden Soma Morgenstern und Alban Berg. Alban Berg schreibt z.B. am 23.10.1934, dass Marya Delvard viele Jahre lang mit seiner Schwester Smaragda befreundet gewesen sei und mit ihr gemeinsam eine Wohnung in der Linken Wienzeile bewohnt habe. In einer Fußnote Ingo Schultes, des Herausgebers der Briefe, erfährt man weiters, dass Marya Delvard Smaragda früh in die Wiener KünsderInnenszene eingeführt und somit auch Alban Berg den Zugang zu dieser verschafft hat.” Volksheim Auf der Titelseite der sich auf zeitgenössische Kunst spezialisierten Pariser Tageszeitung Comedia vom 24. Juli 1936 ist ein Bericht von Pierre George (in der Zeitung ohne „s“) über die Tätigkeiten der „Action Populaire des Ecrivains et Artistes“ in Mitteleuropa, konkret in Wien, abgedruckt. Man erfährt darin, dass Marya Delvard als Botschafterin der französischen Literatur in der Urania, 28 — ZWISCHENWELT im Volksheim Ottakring, in einem „Club des professeurs“ (mit Sicherheit der „Wissenschaftliche Klub“) und im Radio ihre Vorträge halte.”! Auch Theodor Kramer verband einiges mit diesen Orten. Im Volksheim Ottakring hatte er am 20. April 1927, als 30-Jähriger, das erste Mal seine Gedichte vor Publikum vorgetragen. Sein erster Auftritt in der Urania erfolgte 1928. In Deutschland sind die Gedichte Iheodor Kramers schon ab 1929 im Radio zu hören gewesen, die erste Ausstrahlung in Radio Wien erfolgte dafür erst 1932. Nach dem Februar 1934 gab es für den engagierten Sozialdemokraten Iheodor Kramer wesentlich seltener Auftrittsund viel unregelmäßiger Publikationsmöglichkeiten. Die erste Rundfunkausstrahlung einer Lesung fand im November 1934 statt. Seine Frau, die Schauspielerin Inge Halberstam, trug vor. Im Mai 1936 wurde eine Kramer-Lesung im „Wissenschaftlichen Club“ veranstaltet. Inge Halberstam trat übrigens schr häufig, ähnlich wie ihre Kollegin Marya Delvard, als Vortragende von Gedichten auf, oftmals auch in der Urania. Die Erwähnung des Volksheimes, damals wurde die Volkshochschule Ottakring kurz Volksheim genannt, hilft auch einer Spur weiter zu folgen, die erklären könnte, wieso Theodor Kramer 1937 in „Le Parthenon“ publiziert wurde, nämlich die Spur „Aktion Winter“. Die Volkshochschule war bis zum Sommer 1936 von Viktor Matejka geleitet worden. Einer der politischen Verbündeten bzw. Förderer Viktor Matejkas war der Dritte Vizebürgermeister von Wien, Verleger, Sozialwissenschaftler und Historiker Ernst Karl Winter. Aktion Winter Dieser Vizebürgermeister war zwar ein Konservativer, aber einer, der eher mit den fortschrittlichen Positionen eines Max Adlers oder Hans Kelsens sympathisierte als mit jenen z.B. eines Othmar Spanns. Im Ersten Weltkrieg war Ernst Karl Winter noch Monarchist und junger Offiziersanwärter gewesen und an der Front hat er sich mir Engelbert Dollfuß angefreundet. Die beiden verband ein ähnlicher Österreich-Patriotismus, während viele andere Offiziersanwärter aus dem Mittelstand eher deutschnational waren.” Diese Freundschaft sollte bis zur Ermordung von Dollfuß andauern, auch wenn sich zu diesem Zeitpunkt die politischen Positionen der beiden schon radikal unterschieden. Doch nützte Winter diese Bezichung zum ehemaligen gewählten Bundeskanzler und gewordenen Diktator aus, um sich z.B. für verhaftete oder zum Tode verurteilte Sozialdemokraten, wie Josef Gerl, einzusetzen. Auch ernannte Dollfuß Winter, trotz oder gerade wegen der massiven politischen Differenzen, zum Dritten Vizebürgermeister von Wien. Ernst Karl Winter hörte nicht auf, sich für die Verständigung zwischen Arbeiterbewegung und Ständestaat zu engagieren und schaffte mit seiner „Aktion Winter“ für SozialdemokratInnen und demokratische Christlichsoziale ein Sammelbecken abseits der Vaterländischen Front. Er trat auch mit konkreten Forderungen an die Politik heran. So forderte er bereits 1934 den neuen Kanzler Schuschnigg dazu auf, Bürgermeister Karl Seitz sowie alle Sozialdemokraten, die keine Gerichtsverfahren anhängig hatten, zu enthaften. Ebenso verlangte er die Amnestierung aller Verurteilten des Februar 1934 und die Wiedereinstellung aller entlassenen sozialdemokratischen Beamten. Diese Forderungen zeigten tatsächlich Wirkung und wurden ansatzweise bis 1938 erfüllt.” Winter verfuhr nach dem Motto „rechts stehen und links denken“, was sich in Zeiten einer stabilen Demokratie