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Ester Schoefberger 1938. Ruth Domino ist seit Kurzem in Frankreich. Eine Photographie aus jener Zeit zeigt sie elegant gekleidet, nachdenklich; ihr Blick vermeidet den direkten Kontakt. Wer ist diese Frau, und auf welchen Wegen ist sie nach Paris gelangt? Wenn man nach Informationen zu ihrer Lebensgeschichte sucht, findet man kaum etwas, denn nur wenige kennen heute diese Schriftstellerin, die in insgesamt neun Ländern gelebt und in drei Sprachen geschrieben hat. Die Zeit, aus der die Aufnahme stammt, war für sie und für ihr späteres Werk prägend. Jugend und erste Wahlheimat Ruth Domino wurde am 3. Dezember 1908 als Tochter einer wohlhabenden Familie in Berlin geboren. Der Vater war preußischer Finanzbeamter und entstammte einer Pastorenfamilie, während die getaufte Mutter jüdischer Herkunft war. Das Judentum war kein großes Thema in der Familie Domino. Erst als die antisemitische Propaganda zunahm und ein jüdisches Mädchen in der Schule angefeindet wurde, wurde auch in der Familie darüber gesprochen. Ruth Domino beschloss, sich offen zu ihrer jüdischen Identität zu bekennen, woraufhin einige Mitschüler auf Abstand zu ihr gingen. Die Begebenheit wurde zum Schlüsselerlebnis des jungen Mädchens, dem sich so ein Fenster mit einer neuen Aussicht eröffnete. Später sollte sie stets die als selbstverständlich gegebene Realität in Frage stellen und eine starke Faszination für die Figur des Außenseiters entwickeln. 1950 schreibt sie rückblickend: „In the narrow scale of my life then, there stood only one great experience: doubt of accepted values.“ Nach dem Abitur an der Hamburger Lichtwarkschule fuhr Ruth Domino nach Wien, um Germanistik und Geschichte zu studieren. Sie empfand die nationalistischen Vorurteile in Deutschland als stérend, und sie wollte diesen Vorurteilen und zugleich der Enge einer biirgerlichen Familie entgehen. Die neue Stadt brachte eine Erweiterung ihres Horizonts mit sich. Sie fand in Wien ein vielfaltiges kulturelles Leben vor und schloss Freundschaft mit Literaten und Intellektuellen. Die Universität spielte eine große Rolle für sie, doch noch wichtiger waren ihr die Kaffeehäuser mit ihrer besonderen Atmosphäre. Dort konnte sie der Kälte und der Enge der Mietzimmer entfliehen, arbeiten, sich mit Freunden treffen und den berühmten Künstlern nahekommen, die sonst eine abgeschlossene Gruppe bildeten. Der Besuch der Kaffechäuser bedeutete für sie eine imaginäre Reise, die ihr neue Perspektiven eröffnete und Geschichten schenkte. In Wien lernte Ruth Domino auch Theo und Ernst Waldinger und Elias Canetti kennen. Mit letzerem schloss sie eine lebenslange Freundschaft. Sie begegnete auch dem mit Canetti befreundeten Fritz Jerusalem (später Fritz Jensen). Die beiden heirateten 1933, wodurch Ruth Domino zur österreichischen Staatsbürgerin wurde. Das Leben in der neuen Umgebung sagte ihr zu, und sie konnte sich weit entfernt von den rassistischen Vorurteilen in Deutschland glauben: „I had really fallen in love with the country which bridged so many different cultures of South and East Europe, and which, furthermore, was headed by a progressive government generous in reforms. There seemed to be no place for racial prejudice and oppression.“* 32. ZWISCHENWELT Ruth Domino fand in Wien eine neue Welt mit vielen Möglichkeiten, aber die historischen Ereignisse sollten das Gesicht der Stadt bald verändern. Schatten fielen auf die kulturelle Offenheit. Es begann mit der Errichtung einer Diktatur in Österreich und den damit verbundenen Auseinandersetzungen, die einige ihrer Freunde ins Gefängnis brachten. Dann kamen die ersten Flüchtlinge aus Deutschland, die von einer sich rasch wandelnden politischen und sozialen Situation berichteten. Ruth Domino beschloss, ihre Stimme gegen Hitler zu erheben, wo immer es möglich war. Sie sah darin weniger ein politisches Bekenntnis als den Ausdruck eines menschlichen Credos. Nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs ging das junge Ehepaar nach Spanien, um in Murcia und Albacete tatig zu werden. Fritz Jerusalem arbeitete als Arzt, während Ruth den Verwundeten der Internationalen Brigaden Hilfe leistete. Die Rotkreuzhelferin fand im Bürgerkrieg vor allem ein Bild von Gewalt und Tod, das sie vollständig desillusionierte. Diese Erfahrung bestimmte ihre Annäherung an Positionen der Gewaltfreiheit, was die Wahl ihrer späteren Freundschaften beeinflusste. 1937 trennte sich das Ehepaar, und Ruth Domino verließ Spanien allein. Infolge des „Anschlusses“ von Österreich an Deutschland floh sie 1938 nach Paris, denn „Nazism menaced humanists as much as political fighters — and finally it led me into exile in France after the occupation of Austria by Hitler.“ Prekäres Leben in Paris Frankreich war eine wichtige Etappe im Leben der Schriftstellerin. Hier begann ihr eigentliches Leben als Exilierte. Hatte sie zuvor aus freien Stücken beschlossen, fern ihrer ursprünglichen Heimat zu leben, so wurde das Leben im Ausland jetzt zur Notwendigkeit. Eine „neue, nicht vorgesehene Reise“* begann. Seither benutzte Ruth Domino das Wort „Exil“, um ihre Lebenssituation zu bezeichnen. Das Exil brachte auch das Ende jeder Beziehung zur Familie mit sich. Später sollte Ruth Domino ihre Flucht mit folgenden Worten beschreiben: This flight, partly chosen, partly imposed, brought a great change into my life. It was not a heroic change — heroism was with those who had already suffered for their ideas or were ready to stay in order to work from within — but it ended my personal aspiration and cut me off from familiar ties. Die deutsche Botschaft in Paris zog die nach dem „Anschluss“ für ungültig erklärten österreichischen Pässe ein und gab dafür deutsche aus. Ruth Domino wollte nicht wieder zur Deutschen werden: „Deutsch unter Hitler zu sein — nein! Meinen österreichischen Pass trug ich, wie viele andere, auf die Pariser préfecture und erhielt dafür einen kleinen, schäbigen Zettel. Nun war man ex-Autrichienne.“ Sie wurde zur Staatenlosen und sollte es bis zu ihrer zweiten Heirat bleiben, durch die sie dann die italienische Staatsbürgerschaft erhielt. Am Anfang konnte sie in Paris ein einigermaßen normales Leben führen. Sie war arm und wohnte in billigen Hotelzimmern, aber sie war keineswegs verzweifelt, da ihr einige wohlhabende Freunde halfen. Sie verkehrte in einer Gruppe exilierter Schriftsteller und lernte hier auch Anna Seghers, Elisabeth Freundlich und Günther