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Anders kennen. Aufgrund ihrer Bedürftigkeit teilte sie ihr Zimmer eine Zeitlang auch mit Bodo Uhse, der ebenfalls im Spanischen Bürgerkrieg gewesen war. In einer nach dem Krieg verfassten Erzählung wird Paris rückblickend beschrieben: Es war nicht das Paris von Montmartre oder dem Louvre, sondern das Paris von Metrostationen, gelegentlich Heilsarmeesuppen, Cafehauseinladungen und billigen Hotels, möglichst mit geteiltem Bett, um es noch billiger zu haben— und doch war es, wie ich es am Anfang meiner Emigration erlebte — bevor es von Hitler besetzt wurde — voller Abenteuer und Begegnungen.’ In Paris begann Ruth Domino zu schreiben. Als Flüchtling durfte sie zwar nicht arbeiten, aber sie musste trotzdem nachweisen, dass sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte. Aus diesem Grund kam es zu ersten Veröffentlichungen. Sie schrieb auf Deutsch, und ihr erstes Werk, „Herr Eckhart“, erschien 1938 unter dem Pseudonym Ruth Lenz in der Pariser Tageszeitung. Diese Erzählung behandelt die Nürnberger Gesetze mit ihren Auswirkungen. Ein Jahr später veröffentlichte sie unter demselben Pseudonym in der literarischen Monatsschrift Das Wort die Erzählung „Wunderweißes Papier“, die den Wunsch nach Gerechtigkeit im vorrevolutionären Spanien zum Inhalt hat. In diesen frühen Schriften spiegelt sich laut Ruth Domino „das Kollektivschicksal der damaligen Opposition“ wider, und in diesem Schicksal erscheinen die Varianten: „Angst, aber kein Kleinmut, Widerstand im Dunkeln der Illegalität und anonymer Heldenmut.“® Die Unterdrücker waren bekannt, und so fallen auf diese Erzählungen die Schatten Francos und Hitlers. Ruth Domino schrieb gegen die Unmenschlichkeit an und beschwor „eine gerechtere und vielleicht barmherzigere Welt herauf, was diesen Schriften ein heutzutage befremdendes Pathos gibt.“ Eine Möglichkeit zur Veröffentlichung bestand nur in den wenigen deutschen Emigrantenzeitschriften; bekanntere Schriftsteller konnten ihre Werke auch in der Schweiz erscheinen lassen. Innerhalb der Gruppe exilierter Schriftsteller betrachtete sich Ruth Domino als Neuling, als Adoptivkind, welches aber großzügig aufgenommen wurde und welches der neuen Familie dankbar war. Sie sah in den Exilanten eine einheitliche Gruppe von Individuen oder Außenseitern, die trotz unterschiedlicher Gründe für ihre Verbannung an dem gleichen Mangel an Freiheit und unter der gleichen Unterdrückung litten und somit durch Mitleid und Solidarität verbunden waren. Ihre Aufmerksamkeit galt jedoch nicht nur vertrauten Menschen, sondern auch Unbekannten. Als sie krank in ihrem Hotelzimmer lag, stellte sie sich in nächster Nähe einen schweigenden Menschen vor, der gemeinsam mit ihr wartete und die Worte und Visionen derer aufbewahrte, dieim Glauben an etwas gestorben waren. Der imaginäre Nachbar wird zum Symbol für die unzähligen einsamen Verbannten, denen sich Ruth Domino verbunden fühlte. Diese gefühlte Einheit halfihr das Provisorische ihrer Lebensführung zu ertragen. Es galt einen schwierigen Alltag zu meistern. In die Praxis umgesetzte Solidarität bedeutete, dass die Emigranten versuchten, so viel wie möglich, sei es ein Bett, eine Mahlzeit oder ein Zimmer, zu teilen. Die dadurch zustande gekommenen Begegnungen ließen tragische Schicksalsfragmente und schmerzvolle Erinnerungen durchsickern. In der Erzählung „Das geteilte Bett“ (1994), welche auf einem bereits 1948 in englischer Sprache erschienenen Text fußt, teilt die Ich-Erzählerin ein Hotelbett mit der Ungarin Erszi. Diese sagtzu ihr: „Du bist ein Neuling. Wir Ungarn wissen, was Emigration heißt, seit 1919: die Gegenrevolution und Horthy, und wir Linken wurden erschlagen wie die Fliegen.“ !" Erszi will der Ich-Erzählerin zeigen, wie man sich in der Emigration zu verhalten hat. Eines Tages erkrankt sie jedoch und erzählt im Fieberwahn ihre Geschichte. Sie ist als Botin verhaftet und gefoltert worden, aber sie hat geschwiegen. Ihr Mann und ihre Freunde sind trotzdem getötet worden, und sie kann es nun nicht ertragen, die einzige Überlebende zu sein. Aus einer Schublade zieht sie ein Büschel roter Haare und sagt: „Sie waren eigentlich pechschwarz, aber er färbte sie, um nicht erkannt zu werden; ein Zellengenosse schnitt sie ihm ab, bewahrte auch seine Brille, bevor man ihn zum Galgen führte.“'' Diese Schicksalsfragmente, die Ruth Domino im Exil erreichten, prägten sich tief in ihr ein, und sie wurde sie nicht mehr los; sie waren zu einem Teil ihrer selbst geworden und sollten eine wesentliche Rolle in ihrem Werk spielen. Nach dem Krieg schreibt sie: Now, when I turn back to those years, I find my own experience scattered over many different human features and the fragments of fate related to them. Only conjuring them up, can [form a tentative pattern of meanings painfully mingled with hope, whose total sum I find in a woodcarving that accompanies me wherever I settle down." Bei diesem Schnitzwerk handelt es sich um eine peruanische Darstellung Christi. Die Dornenkrone drückt körperliche Qual und Erschöpfung aus, doch darunter zeigt sich die Andeutung eines Lächelns. Dieser Kontrast ist für Ruth Domino ein Hinweis auf das Mysterium der christlichen Religion. Der Gesichtsausdruck des Menschen- und Gottessohnes vermittelt ihr die Botschaft: „Greater love hath no man than this, that a man lay down his life for his friend.“ Ruth Domino beschreibt auch weitere Gestalten aus der Pariser Zeit. Sie erinnert sich an den Anwalt, der Wäscher wurde und trotz aller Bedrängnis sein Leben ertrug. Zwei seiner Kunden, ein jüdischer Philosoph und ein berühmter Dichter, gingen hingegen in den Freitod, als die Deutschen Paris besetzten. Sie denkt an die Gesichtszüge zweier aus Deutschland geflohener Frauen: Den Vater der einen hatten die Nazischergen ermordet, der Ehemann der anderen war enthauptet worden. Rückblickend fasst Ruth Domino ihre Eindrücke zusammen: Mai 2016 33