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Umstände längst vergangen sind, Hüstert es dann und wann in meinem Ohr wie vom Windstoß zugetragen: „Wir kriegen Dich schon“.“?° Überquerung des Ozeans und Ankunft in den USA Das französische Schifflichtete den Anker mit Martinique als Ziel, doch es wurde in Trinidad aufgehalten, und die jüdischen Flüchtlinge mussten an Land gehen. Nach einiger Zeit in einem Lager konnte Ruth Domino 1941 weiterreisen, aber das Ziel waren nun die USA. Zunächst verbrachte sie einen Monat auf dem von ihr später als ein „up-to-date Purgatorium“”' bezeichneten Ellis Island. Ruth Domino richtete den Blick nach vorne und auf ein neues Leben. Es gelang ihr aber nicht, die Vergangenheit zu verdrängen. Voller Sorge musste sie sich fragen, wie es ihren kranken Eltern, zu denen der Kontakt abgebrochen war, und ihren Freunden ging: I was now in safety, but freed from the burden of persecution, I did not know what I should look forward to. Europe lay far behind me, but in my thoughts the fortress I had seen from the boat grew to tremendous dimensions: it locked up tears and desperate courage, the unquiet graves of friends and parents, and a meaning I could no longer decipher.” In der Zeit in den USA litt sie unter der Erinnerung an das, was sie aufgegeben hatte. Dazu trugen auch die Nachrichten aus Europa und die Bilder der zerstörten Städte bei. Ruth Domino fühlte sich machtlos gegenüber dem Chaos der „großen Zeiten“ und dem Chaos ihrer eigenen Gedanken. Sie sah in den Zeitungen Fotografien von „Häusern, deren Inneres herausquoll wie Gedärme; und damit kamen auch längst verdrängte Erinnerungen zurück, das Elternhaus, die jüdische Mutter, der blinde Vater, nach dem Tode ineinander verschlungen wie Philemon und Baucis, die Mischlingsschwester.“”? Emblematisch dafür ist die Antigone des Sophokles. Eine französische Ausgabe des Dramas begleitete Ruth Domino auf ihrer Flucht und hielt die Erinnerung an den Vater wach, der der Tochter einst daraus vorgelesen hatte. Die skandierende Stimme des Vaters bestimmte auch den Rhythmus der Erfahrung und später den Rhythmus der Erinnerung in einem schmerzlichen und sich stetig verstärkenden Wirbel: Ich forschte in den wohlbekannten Zügen von Vater, Mutter und Spielgefährten, aber ihre Augen schlossen sich wie die Augen derer, die in unserer Erinnerung sterben wollen — vergeblich — sie kamen wieder wie die Bruchstücke eines unverständlichen Traumes, der in den seltsamsten Augenblicken unseres Lebens plötzlich auftaucht und wieder verschwindet. Ich hörte die griechisch skandierende Stimme meines Vaters durch das Tacken der deutschen Maschinengewehre, die auf die flüchtende Zivilbevölkerung in Frankreichs Landstraßen herabschossen; sah seine Hand sich im feierlichen Metrus schwingen, während ich jene spanischen Milizsoldaten betrachtete, die in zerrissenen, weiten Militärmänteln aufder anderen Seite der Pyrenäen standen, auffranzösischem Boden, Vertriebene, und schweigend mit brennenden Augen zu den weifsen Bergspitzen hinaufstarrten.”* Die Erinnerung an diese Zeit wird sie nicht mehr loslassen. In ihren späteren Erzählungen werden Erlebnisse und Eindrücke durch rasch wechselnde Assoziationsnetze zusammengefasst, und die auf diese Weise entstehenden Werke wirken wie Träume, in denen letztlich alle Umrisse verschwimmen. Ruth Dominos Schreibweise ist keineswegs zufällig, sondern das Ergebnis minutiöser Überlegungen existenzialistischer Natur, die auf einer literarischen Ebene mit der Erinnerung an das Erlebte verflochten werden. Dabei geht es der Schriftstellerin um Deutung und Sinngebung und gleichzeitig um die Suche nach einer Sprache, die die innere Erfahrung in begreifbare Worte und Symbole übersetzen kann. Rückkehr nach Europa Ruth Domino blieb bis 1951 in den USA, wo sie 1949 den ehemaligen Partisanen und späteren Philosophieprofessor Mario Tassoni kennenlernte. Ein Jahr nach der Hochzeit zogen beide nach Italien und lebten zunächst in Mario Tassonis Heimatstadt Bergamo. Ab 1956 lebten sie in der Schweiz, in Belgien und in England, bis sie 1975 endgültig nach Italien zuriickkehrten. Ruth Domino hat ihre Eltern nie wiedergesehen. Der Name der Schriftstellerin hat sich nach und nach verandert: Sie wurde als Ruth Domino geboren und benutzte für ihre Veröffentlichungen abwechselnd die Namen Ruth Lenz, Ruth Jensen, Ruth Jerusalem, Ruth Tassoni oder Ruth Domino Tassoni. Ihre wichtigsten Werke sind der autobiographische Text Search. A Personal Journey through Chaos (1950) und die drei Erzählbände Erinnerungskapsel (1987), Lichtpunkte. Autobiographische Splitter (1990) und Der unerforschte Garten (1994). Sie veröffentlichte auch den Gedichtband Sole di solitudine (1976) in italienischer Sprache. Ruth Domino Tassoni starb am 11. November 1994 in Bergamo. Ester Schoefberger, geb. 1983 in Mezzolombardo (Italien). BachelorAbschluss in Interkulturellen Studien in Florenz und Master-Abschluss in Euro-amerikanischer Literaturwissenschaft mit dem Doppeldiplomprogramm der Universität Trento und der TU Dresden. Durch ein DAAD-Stipendium hat sie acht Monate in Hyderabad (Indien) verbracht. Sie wohnt gegenwärtig in Dresden, wo sie Italienisch unterrichtet und an ihrer Dissertation über die Angst in der deutschsprachigen Lyrik 1933-1945 arbeitet. Anmerkungen 1 Ruth Domino, Search. A Personal Journey through Chaos, A Pendle Hill Pamphlet, Wallingford, PA., Pendle Hill, 1950, S. 14. 2 Domino, Search, op. cit., S. 22. 3 Ebd. 4 Ruth Tassoni, Erinnerungskapsel, Zürich, Pendo Verlag, 1987, S. 11. 5 Domino, Search, op. cit., S. 23. 6 Tassoni, Erinnerungskapsel, op. cit., S. 10. 7 Ruth Tassoni, Der unerforschte Garten, Zürich, Pendo Verlag, 1994, S. 31. 8 Tassoni, Erinnerungskapsel, op. cit., S. 10. 9 Ebd. 10 Tassoni, Der unerforschte Garten, op. cit., S. 32. 11 Ebd., S. 34. 12 Domino, Search, op. cit., S. 23-24. 13 Ebd., S. 24. 14 Ebd. 15 Tassoni, Erinnerungskapsel, op. cit., S. 11. 16 Domino, Search, op. cit., S. 27. 17 Tassoni, Erinnerungskapsel, op. cit., S. 35-36. 18 Tassoni, Lichtpunkte, op. cit., S. 58. 19 Ebd., S. 56-57. 20 Ebd., S. 57. 21 Ebd., S. 64. 22 Domino, Search, op. cit., S. 37. 23 Tassoni, Erinnerungskapsel, op. cit., S. 12. 24 Ruth Domino, „Sophokles im Exil“, in Freies Deutschland. Antinazi Monthly, Mexico, Dezember, 1943, S. 24-25. Mai 2016 35