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Keramikfabrik gearbeitet, zuletzt als technischer Direktor. Der Direktor Lichtenstern hat ein gutes Verhältnis zu den Arbeitern seiner Fabrik und sympathisiert mit den Kommunisten, arbeitet mit der illegalen KPÖ zusammen. Ende 1934, Anfang 1935 hilft er Ernst Fischer bei dessen heimlichen Aufenthalt in Österreich! — was 1935 auch eine kurze Inhaftierung Lesters zufolge hat. Offenbar um dem direkten politischen Druck zu entweichen, geht er 1935 nach Zürich, um dort sein Wirtschaftsstudium fortzusetzen. Doch auch dieses Mal kommt es zu keinem Abschluss: 1937 stirbt sein Vater und er muss zurück, den Familienbetrieb übernehmen’. Als am 9. März 1938 bekannt wird, dass am 13. März eine Volksabstimmung über die Selbstständigkeit Österreichs geplant ist, engagiert sich Lester, möglichst viele zu ermuntern, Österreich zu unterstützen und die Abstimmung als Demonstration gegen den Nationalsozialismus zu nutzen. Am Nachmittag des 11. März erfährt Lester, dass die Abstimmung abgesagt ist und die Regierung demissioniert hat und entschließt sich sofort zu flüchten: Abgesehen von seiner jüdischen Herkunft (er war wenige Jahre zuvor aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten) waren seine Einstellung und seine Aktivitäten gegen die Nazis allgemein bekannt. Obwohl er eigentlich in die Schweiz und nach Frankreich will, entschließt er sich in das viel rascher zu erreichende Mähren zu flüchten, wo sein Cousin einen Teilbetrieb der Steingutproduktion leitet. Die Grenze ist von tschechischer Seite bereits gesperrt, doch erklärt sich ein ihm bekannter freundlich gesinnter Staatspolizist, ihn doch durchzulassen, wenn Lesters Vetter eine Einreiseerlaubnis besorgt — was dann am Nachmittag des 12. März gelingt. Die überstürzte Flucht gelang auch nur ganz knapp: In seiner Wilhelmsburger Wohnung war schon längst Polizei erschienen, um Lester zu verhaften, und der Anruf der neuen Machthaber in Wilhelmsburg an die Grenzstationen, Lesters Flucht zu verhindern, erreicht Kleinhaugsdorf nur kurz, nachdem er die Grenze überschritten hat. Lesters Ziel war aber nicht die Tschechoslowakei, deren Zukunft er als schon bald gefährdet sah, sondern Frankreich. Dort, in der Provence, in Le Lavandou/Lo Lavandor an der Cöte d’Azur, hatte er bei seinem Freund Emil Alphons Rheinhardt schon in den letzten Jahren seinen Urlaub verbracht und sich sogar 1936 eine Aufenthaltsbewilligung besorgt, die sich nun als lebensrettend erweisen sollte. Im April 1938 fliegt? Lester problemlos von Prag nach Straßburg und reist von dort weiter zu seinem Freund in Südfrankreich. Der Österreicher E.A. Rheinhardt, der dort schon länger wohnt, hatte sein gastfreundliches Haus zu einem Treffpunkt von österreichischen und deutschen Schriftstellern gemacht, die Lester dort auch schon kennengelernt hatte, wie z.B. ‘Thomas und Heinrich Mann, Franz Theodor Csokor, Alexander Roda Roda, Gina Kaus, spater auch Egon Erwin Kisch, Hans Weigel und Franz Werfel.* Wohl auch durch diese Bekanntschaften angeregt entstand bei Lester gemeinsam mit Rheinhardt der Plan, eine Anthologie mit Texten emigrierter österreichischer Autoren herauszugeben. Sie sollte Lebendes Österreich heißen. Dazu sollte es aber nicht kommen, denn Lesters Ambitionen auf dem Gebiet der österreichischen Literatur wurden im Juli 1938 in Toulon durch die Zufallsbekanntschaft mit einem österreichischen Kommunisten auf die politischen Aktivitäten der Exilösterreicher in Paris gelenkt. Es bestanden dort damals drei Gruppierungen der österreichischen Emigranten, die nur mühsam miteinander auskamen: Die Legitimisten, die Revolutionären Sozialisten (R.S.) und die Kommunisten. Um die Legitimisten mit Otto von Habsburg im Mittelpunkt scharten sich auch die Christlichsozialen, auch Vertreter der letzten austrofaschistischen Regierung, Eine Schlüsselposition hatte dabei | der um Ausgleich bemühte Ms A. \} vormalige Presseattaché in N 7°, Paris Martin Fuchs. Die aus der von Dollfuf aufgelésten Sozialdemokratischen Partei ER hervorgegangenen R.S. stan- Conrad H. Lester. Zeichnung: Georg Deutsch den in Frankreich zunächst unter der Leitung von Otto Bauer, der aber schon Anfang Juli 1938 verstorben war. Die dominierende Einstellung der Sozialisten (nicht nur in Paris) war „großdeutsch“ geprägt; neben Bauer fand auch Friedrich Adler, dass nach einer Befreiung von den Nationalsozialisten der „Anschluss“ nicht rückgängig gemacht werden sollte; Sozialisten, die für Österreichs Unabhängigkeit eintraten, wurden aus der Gruppe ausgeschlossen. Julius Deutsch, der nach Bauers Tod die führende Persönlichkeit der R.S. in Paris war, trat immerhin dafür ein, dass darüber die Österreicher selber in einer Abstimmung entscheiden sollten. Für Lester, der sich vehement für ein selbständiges Österreich einsetzte, waren deshalb die R.S. weniger attraktiv. Umgekehrt wurden die Kommunisten für Lester wieder interessanter, die nachdrücklich für ein unabhängiges Österreich eintraten — zwei Jahre zuvor, 1936, hatten die Moskauer Prozesse Lesters Sympathien für die kommunistische Bewegung beendet. Das gemeinsame Interesse an einem freien, nicht-deutschen Österreich ebnete jedoch für Lester den Weg zu einer Zusammenarbeit mit den Exilkommunisten. Gemeinsam mit Rheinhardt lernte Lester im September 1938 in Paris den Kommunisten Arpad Haas? mit dessen jungen Mitarbeiterin Elisabeth Freundlich kennen. Zusammen beschlossen diese vier die Gründung eines Vereins mit dem Namen Liga für das geistige Österreich bzw. Ligue de l’Autriche Vivante. Rheinhardt und Freundlich warben in den nächsten Monaten bei den österreichischen Emigranten für deren Mitarbeit im Verein, erreichten u.a. Franz Werfel, Alfred Polgar und Gina Kaus. Lester war aber nach den Besprechungen nach Zürich gereist um sein im Vorjahr abgebrochenes Studium der Wirtschaftswissenschaften wieder aufzunehmen. In Zürich traf er — mit einem Empfehlungsschreiben Rheinhardts — Robert Musil, um ihn für das Vereinsprojekt zu interessieren. Musil war nicht gleich begeistert, denn er hatte cher Sympathien für ein mit einem demokratischen Deutschland vereintes als für ein selbstständiges Österreich. Dennoch erklärte er sich bereit mitzuwirken - allerdings nur, wenn Werfel nicht daran teilnehme. Musil war ein engagierter Gegner der Austrofaschisten und konnte Werfel dessen Naheverhältnis zu Schuschnigg nicht verzeihen. Schließlich gelang es Lester, Musil unter der Voraussetzung zu gewinnen, dass Werfel nicht Präsident der Liga würde. In Zürich warb Lester auch bei anderen Exilösterreichern um Unterstützungserklärungen für die geplante Liga und erreichte dort Friedrich Torberg (mit dem er dann lebenslang befreundet war), Roda Roda und den Maler Mopp (Max Oppenheimer). Sein Mai 2016 41