OCR
Richard Wasicky (bzw. manchmal auch Wasitzky), ehemaliger Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Wien, war 1938 als Jude von der Universität zwangspensioniert worden und nach Frankreich emigriert. Er stand politisch in der Mitte, konnte jedenfalls mit Julius Deutsch zusammenarbeiten, ohne die Monarchisten vor den Kopf zu stoßen, arbeitete auch mit Hans Rott und Berta Zuckerkandl zusammen. Lester bot seine Mitarbeit an, und schlug als Unterstützung die Gründung einer Zeitschrift vor. Wasicky und Deutsch waren sofort einverstanden, und Martin Fuchs war jedenfalls nicht dagegen. Dieses Mal wurde eine Bewilligung von französischer Seite rasch erteilt und die Vorbereitungen für die geplante Monatszeitschrift Freies Österreich begannen. Als Herausgeberin fungierte eine wohlgesinnte französische Journalistin, Lester und Klaus Dohrn waren Redakteure. Lesters Bemühungen, Sozialisten zur Mitarbeit zu gewinnen, scheiterten, nur Julius Deutsch selber arbeitete mit und verfasste einen Beitrag zur ersten Nummer: „Am Wendepunkt des Krieges“. Weitere Beiträge stammten u.a. von Soma Morgenstern, Alfred Polgar, Roda Roda, Richard Wasicky und Franz Werfel. Am 10. Mai 1940 erschien die etwa dreißig Seiten starke Nummer, in der Erinnerung Lesters mit einer Auflage von ein- bis zweitausend Stück. Diese erste Ausgabe sollte sogleich die letzte sein, denn am selben Tag begann die Besetzung Belgiens. Trotz dieser Ereignisse und der Internierung von Klaus Dohrn arbeitete Lester gemeinsam mit Martin Fuchs weiter an der Juni-Ausgabe von Freies Österreich und auch an der Anerkennung des Office Autrichien. Letzteres scheiterte am Veto von Otto von Habsburg; die Juni-Nummer konnte wegen der Invasion der deutschen Armee nicht mehr erscheinen. Anfang Juni, ein Monat nach der ersten Ausgabe, hatte Lester mit Wasicky, Fuchs und Karl Hans Sailer (dem sozialistischen Journalisten, ehemaligen Redakteur der Arbeiter-Zeitung) in Paris noch eine Redaktionsbesprechung. Nachdem kurz darauf, am 11. Juni, Paris zur „Offenen Stadt“ erklärt wurde, flüchtete Lester mit seinem Auto, in dem er auch Richard Wasicky und dessen Frau und Sohn mitnahm, zur spanischen Grenze. Am 14. Juni wurde Paris von der Wehrmacht besetzt. Die Familie Wasicky gelangte rasch über die spanische Grenze, Lester aber wurde vom französischen Gendarmen wegen „zweifelhafter Papiere“ - so beschreibt es Lester später selber — verhaftet, allerdings am nächsten Tag wieder freigelassen. Lesters weiterer Lebensweg hat nichts mehr mit Frankreich zu tun. Er schaffte es schließlich im Oktober 1940 von Marseille aus nach Algerien zu gelangen, von dort nach Tanger und via Lissabon und Brasilien im August 1941 in die USA einzureisen. Am Tag der Befreiung, am 8. Mai 1945, erwa 2600 Tage nachdem er Österreich bei Kleinhaugsdorf verlassen hatte, betrat Lester, nunmehr als US-amerikanischer Soldat, bei Scharnitz in Tirol wieder Österreich. Anmerkungen Obiger Text stützt sich in erster Linie auf folgende fünf Publikationen: C.H. Lester: Probleme der österreichischen Literatur in der Emigration. (Frankreich 1938-1940.) Vortrag an der Wiener Universität im Rahmen der Gesellschaft für Hochschulforschung, 16. März 1972. Als Manuskript 1972 vervielfältigt. (Ein Exemplar befindet sich im DÖW). C.H. Lester: Freies Österreich. In: ER. Reiter (Hg.): Unser Kampf. In Frankreich für Österreich. Interviews mit Widerstandskämpfern. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1984, S. Gilbert Badia et al.: Les barbelés de !’exil. Etudes sur P’emigration allemande et autrichienne (1938-1940). Grenoble: Presses universitaires de Grenoble 1979. Osterreicher im Exil. Frankreich 1938-1945. Eine Dokumentation. Hg. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Wien: Österr. Bundesverlag 1984. Ernst Schwager: Die österreichischen Emigration in Frankreich 1938-1945. Wien u.a.: Böhlau 1984. Ein ausführliches Literaturverzeichnis und weitere Informationen über C.H. Lester befinden sich auf: http://soma-morgenstern.at/userfiles/file/ConradHLester.pdf. Zur Tätigkeit C.H. Lesters in Österreich nach 1945 vgl. Manfred Wieningers Aufsatz „Gedenkblatt für Conrad H. Lester“ in ZW Nr. 2-3/2015, S. 60-62. Zu E.A. Rheinhardt Leben und Zeit in Le Lavandou vgl. Marin Krists Beiträge in ZW Nr. 3/2002, S. 15-21 („Wir sterben alle unseren eigenen Tod“!), ZW Nr. 3/2005, S. 14-19 („Erika von Behr — die Frau neben E.A. Rheinhardt“) sowie, hg. von Martin Krist, E.A. Rheinhardts „Tagebuch aus den Jahren 1943/44“ (Wien 2003). 1 Fischer, der Führer der österreichischen „Sozialistischen Jungfront“ war vorher 1934, um seiner Verhaftung zu entgehen, von Wien nach Prag geflohen, wo er der KPÖ beigetreten war. 2 Zu Lesters Funktion in seiner Wilhelmsburger Fabrik, auch in der Nachkriegsperiode vgl. Manfred Wieninger: Gedenkblatt für Conrad H. Lester. in: Zwischenwelt. September 2015, S. 60-62. 3 Der für die damaligen Flüchtlinge unübliche teure Flug zeigt, dass Lester trotz seiner Verluste durch die rasch erfolgte Beschlagnahme seiner Wilhelmsburger Fabrik weiterhin über reichliche Geldmittel verfügt hat. Die hat er in den folgenden Jahren im Exil auch ausgiebig zur Unterstützung verfolgter Freunde verwendet, die in finanzieller Not verkehrten, u.a. Stefan Herz-Kestranek, E.A. Rheinhardt und Soma Morgenstern. 4 Zu E.A. Rheinhardts Treffpunkt in La Lavandou vgl. Wolfgang Straub: „Parnasse autrichien“ Le Lavandou - eine Schriftstellerkolonie im südfranzösischen Exil. In: Exil (Frankfurt/M.), H. 1/2015; sowie: E.A. Rheinhardt: „Meine Gefängnisse“. Tagebücher 1943-1945. Hg. von Dominique Lassaigne u.a. Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2013. 5 Eigentlich Haäsz Ärpäd (1896-1967), bemerkenswerterweise ein Ungar (der auch nach dem Krieg in Ungarn politisch tätig war), der sich vehement für Österreich engagiert hat. 6 Das im Jugendstil errichtete Luxushotel am Boulevard Raspail, das sich nicht weit von Joseph Roths Bleibe in der Rue de Tournon befindet, beherbergte nach 1933 deutsche antifaschistische Volksfrontinitiativen. Nach der Besetzung Frankreichs hauste dort der militärische Geheimdienst Deutschlands. 7 D.h. nicht gut genug gefälschter Dokumente. Verstreutes Auf der Welt sein. — Ein Schulkind, wohlverschen mit Mütze, Wintermantel, Rucksack, geht zur Mittagszeit gedankenverloren die Engerthstraße in Wien entlang. Es hält sich außerhalb der Vordächer, hat die Hände vorgestreckt und zu einer Schale geformt, in der es den Regen auffängt. Der Gesichtsausdruck des kleinen Mädchens ist heiter und konzentriert. Mai 2016 43