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glückte oder nicht. Im Fall von Kallir war die Ausfuhr ohne größere Einbußen vonstattengegangen, was insofern von größter Bedeutung war, als die exportierten Kunstwerke die Basis für seine weitere Tätigkeit als Galerist und Kunsthändler im Exil bildeten und die von ihm in Paris gegründete Galerie bald mit einer nicht nur für Emigrantenkreise interessanten Ausstellung eröffnet werden konnte. Laut Jane Kallir wurden die Werke für die Ausstellungen von Wien nach Paris geschickt'*. In den Ausfuhransuchen bei der Denkmalbehörde, die Kallir teilweise schon in den Wochen vor dem „Anschluss“ gestellt hatte, ist allerdings die Schweiz (Luzern) als Bestimmungsort angegeben.”” Kallir hatte in Paris am 13. Jänner 1939 mit dem Architekten Otto Bauer” einen Gesellschaftsvertrag für die Galerie St. Etienne abgeschlossen.”' ,,St. Etienne“ bedeutet auf Franzésisch St. Stephan und war eine sentimentale und patriotische Bezugnahme auf den Wiener Stephansdom -— ,, a sentimental and patriotic gesture“, wie sie Jane Kallir nennt.”” Die Galerie fiihrte auch die Silhouette des Wiener Stephansdomes im Wappen. Galerie St. Etienne Am 13. Marz wurde die Galerie unter dem Namen Otto Bauers und einer weiteren Geschaftsfiihrerin, Marie-Claire Rollin, in das Pariser „Registre Analytique du Commerce“ eingetragen und das Stammkapital in der Höhe von 80.000 Francs laut Gesellschaftsvertrag in 80 Teile zerlegt, von denen 72 auf Kallir entfielen. Am 25. Februar war ein Vertrag unterzeichnet worden, in dem Otto Bauer seine sämtlichen Geschäftsanteile an den in London ansässigen Bruder Otto Kallirs, Alfred Kallir, abgetreten hatte, aber Geschäftsführer geblieben war, und zwar zeitlich begrenzt bis zum 30. Juni 1939. Einen Tag vor Ablauf der Frist wurde vertraglich die Verlängerung dieser Tätigkeit und zugleich auch jener von Rollin festgelegt.” „Es ist ein kleiner Trost zu wissen, dass es einem Wiener gelungen ist, einige wertvolle Gemälde aus einer früheren Wiener Galerie zu retten“, hieß es in der Exilzeitschrift „Nouvelles d’Autriche“**, die vom kommunistischen Publizisten Ernst Zucker geleitet wurde. Die erste, im Februar 1939 eröffnete Ausstellung umfasste, wie die „Österreichische Post“ berichtete, Meisterwerke des 19. und 20. Jahrhunderts, „schöne Bilder [Ferdinand Georg] Waldmüllers“ sowie Anton Romakos berühmtes Porträt der Kaiserin Elisabeth („ehemals Sammlung Reichel“). Hinzu kamen „die vier führenden Meister der österreichischen Malerei des 20. Jahrhunderts: Klimt mit drei seiner bekanntesten Landschaften, der jungverstorbene Egon Schiele mit seinen wichtigsten Bildern, die einen engen Raum füllen, der Salzburger Anton Faistauer (...) mit zwei schönen Salzburger Landschaften und Oskar Kokoschka mit einem bedeutenden Blumenstück“. Die Werke wurden „im vornehmen, zurückhaltenden Rahmen“ präsentiert. Am Eröffnungstag hatte vor französischem und österreichischem Publikum eine „echt österreichische Darbietung“ stattgefunden, und das Programm war vom Pariser Radio übertragen worden, wie die „Österreichische Post“ mit Genugtuung festhielt.”° „Nichts ist so wichtig für die Erhaltung des politischen Begriffes Österreich und seine Zukunft wie die Erhaltung des Kulturbegriffes Österreich. Mehr und stärker als alle Propaganda sprechen die bloße Darstellung österreichischer Kultur und die Darbietung österreichischer Kunst für die Notwendigkeit der Erhaltung und Wiederherstellung. Die Welt darfauch über dringenden Sorgen nicht vergessen, was sie an Österreich verloren hat. Wir Österreicher sind heute Gäste geworden, und es scheint, wenn wir die Summe von Leid und Not schen, für deren Linderung wir die Hilfe der Welt in Anspruch nehmen müssen, als hätten wir nur zu bitten: und solche Menschen sind oft lästig. Es ist gut, wenn wir uns und unsere Freunde von Zeit zu Zeit daran erinnern können, dass wir auch zu geben, zu schenken haben und dass wir nicht mit leeren Händen gekommen sind.“ Im Mai folgte eine gesonderte Kokoschka-Schau, die einen Überblick über verschiedene Schaffensperioden des Künstlers ermöglichte und die von den beiden genannten österreichischen Exilzeitschriften ebenfalls besprochen wurde.” Über die dritte, am 12. Mai eröffnete Ausstellung konnte man in der „Österreichischen Post“ Folgendes lesen: „Im großen Saal sind Gemälde von Max Liebermann und Lovis Corinth vereinigt, darunter der erste Entwurf von Liebermanns berühmtestem Bild: ‚Judengasse in Amsterdam‘. Ferner das bekannte Porträt Gerhart Hauptmanns, auch das letzte große Werk Liebermanns: ‚Allee in Wannsee‘, das der Künstler mit 84 Jahren, kurz vor seinem Tode, gemalt har. Von Corinth ist eines seiner bedeutendsten Werke ausgestellt: die große ‚Walchensee-Landschaft‘, ferner auch ein kleineres Bild, das dieselbe Landschaft im Winter zeigt und zu den schönsten des Meisters gehört. Von Gustav Klimt (...) sind diesmal in zwei Räumen seine besten Zeichnungen zu sehen. — Ein Saal mit französischer Kunst aus dem 19. und 20. Jahrhundert ergänzt die Schau. Hier sind u. a. Werke von Courbet, van Gogh, Gauguin, Signac, Sisley (...).“%8 Insgesamt zeigte Kallir in Paris vier Ausstellungen, größtenteils mit österreichischer Kunst.” Der Galerist war gleichzeitig in der österreichischen Exilpolitik aktiv. Er bewegte sich offenbar vor allem in Kreisen legitimistischer Exilanten, obwohl er selbst nicht den Monarchisten zuzurechnen war. Vielmehr könne man ihn als „loyalen Österreicher“ bezeichnen, als einen Vertreter des assimilierten jüdischen Bürgertums, meint Marie-Catherine TessmarPfohl.?° Gemäß seiner Tochter, Eva-Marie Kallir, bezeichnete sich Otto Kallir selbst, halb im Witz, als „einen monarchistischen Sozialisten“?! Jedenfalls waren zur Eröffnung der ersten Ausstellung in Paris zahlreiche Personen aus dem monarchistischen Umfeld erschienen, weshalb die kommunistische Exilpresse davor warnte, dass die französische Öffentlichkeit den Eindruck gewinnen könne, die gesamte österreichische Emigration habe eine legitimistische Gesinnung. Tatsächlich hatte die Veranstaltung jedoch weit über diese Kreise hinaus ein beträchtliches Echo. Die „Ligue Autrichienne“ im Pariser Exil war de facto ein Sammelbecken für alle, die sich — wie auch Kallir — nicht an sozialdemokratische oder kommunistische Gruppierungen binden wollten. Wer vor 1938 christlich-sozial gewesen war oder sich dem Ständestaat verbunden gefühlt hatte, scharte sich nun um die Monarchisten. Die Zeitung „Österreichische Post“, die ab Dezember 1938 erschien, wurde von Otto Kallir finanziert. Sie enthielt Berichte über die Situation in der Heimat, Hinweise zu den Aufenthalts- und Arbeitsbedingungen in Frankreich, auf Kurse und Veranstaltungen, und sie bot Schriftstellern Publikationsmöglichkeiten. Die literarischen Beiträge von Franz Werfel, Alfred Polgar, Joseph Roth, Friedrich Torberg, Alexander Roda Roda, Carl Zuckmayer oder Stefan Zweig bürgten für ein beachtliches Niveau. Außer Otto Habsburg und Martin Fuchs, dem früheren Presseattach& an der österreichischen Gesandtschaft in Paris, waren die Mai 2016 49