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Debüt als jüngste Dirigentin des BBC Orchestra Im November 1935 wurde Kapralova Mitglied von Piitomnost"’, einer unter der Leitung von Alois Haba (1893 — 1973) stehenden, anerkannten Prager Gesellschaft für Komponisten und Komponistinnen der Gegenwart. Häba galt als Repräsentant der tschechischen Avantgarde. Die Mitgliedschaft ermöglichte Kaprälova in den wöchentlich stattfindenden Konzerten die damalige Gegenwartsmusik und ihre Musikschaffenden kennenzulernen. Dort brachte sie auch ihre eigene einem interessierten Publikum zur Kenntnis, was wiederum den Bekanntheitsgrad steigerte.'? 1937 beendete Vitezslava Kaprälovä ihr Studium in Prag mit Auszeichnung. In der Begründung hieß es, dass „ihr Talent die größten Hoffnungen rechtfertige.“'? Am 26. November 1937 wurde auf Empfehlung ihres Lehrers Novak die Vojenskd symfonieta, die Militär-Sinfonietta op. 11., im Rahmen des jährlich stattfindenden Galakonzertes des Nationalen Frauenrates uraufgeführt. Im Festsaal des berühmten Prager Konzertsaals Lucerna schwang erstmals eine Frau den Taktstock vor dem renommierten Männerorchester der Tschechischen Philharmonie. Die Veranstaltung fand im Beisein des Präsidenten Edvard Bene$ statt, dem sie das Werk widmete. Dieses Doppel-Debut brachte der Dirigentin und Komponistin einen spektakulären Erfolg. Für ihren Auftritt hatte sie ein schwarzes Sakko und Hose mit weißer Bluse und schwarzer Fliege gewählt. Die Frau im Frack, der offiziellen Männerkleidung für derartige Auftritte, beeindruckte mit der energischen Art, den Taktstock zu führen und überzeugte mit dem Werk. Für die Militär-Sinfonietta op. 11 erhielt sie im Dezember 1938 zusammen mit Pavel Haas (1899 — 1944) den begehrten Smetana-Preis'‘. Sie gilt als ihr zentralstes Werk. Für großes Orchester geschrieben, ist es die musikalische Antwort der Komponistin auf die Bedrohung der Republik durch die Nationalsozialisten und symbolisiert ein politisches Statement. Sie wollte das Werk jedoch nicht als Ruf zu den Waffen verstanden wissen, sondern als Schutz des Selbstbewußtseins und der Demokratie. Musikalische Höchstleistungen in Paris Im Jahr 1937 lernte sie den tschechischen Komponisten Bohuslav Martinü (1890 -— 1959) kennen, der seit Anfang der 1920er Jahre in Paris lebte und arbeitete. Vit&zslavas Vater war mit seinem Kollegen bereits während der eigenen Pariser Studienzeit in Kontakt getreten. Sie beschloß daher, in der kosmopolitischen Stadt an der Seine ihre Studien als Stipendiatin der Ecole Normale de Musique de Paris bei Charles Munch (1891 — 1968) fortzusetzen. Nicht zufällig existierte hier in der Zwischenkriegszeit eine vitale tschechische Gemeinde — viele ihrer Landsleute waren kiinstlerisch Frankreich zugewandt. Hier erwartete nicht nur sie der Prüfstein aller neuen musikalischen Strömungen. Intellektuelle und Kunstschaffende der verschiedenen Sparten und Nationalitäten trafen sich in den berühmten Cafes, wo sie komponierten, diskutierten, geistig flanierten und das Leben der Bohéme zelebrierten. Doch das heiß begehrte Stipendium deckte kaum die Ausgaben der jungen Studentin. Die finanzielle Unterstützung von Mäzenen halfihr im ökonomischen Kampf ebenso wie dotierte Preise und Klavierstunden. Nicht zuletzt profitierte sie von der Mentorschaft ihres Lehrers Martinü. Die Pariser Jahre zeigten sich kompositorisch als ihre intensivste Schaffenszeit und persönlich als Herausforderung. Hier wurde sie mit der Musik von Igor Strawinski, Sergei Prokofiew, Arnold Schönberg oder Darius Milhaud und Arthur Honegger, die sie persönlich kennenlernte,'? konfrontiert. Durch die unterschiedlichen Einflüsse konnte sie aus den mährischen Ursprüngen, Prager Prägungen und den französischen Einflüssen eine eigene singuläre Tonsprache entwickeln. Zudem gab ihr Martinü kostenlosen Unterricht.'° Zwischen den beiden entspann sich bald eine gleichwertige fachliche Auseinandersetzung, von der beide profitierten und die in ihrem Werk Ausdruck fand. Schließlich entstand zwischen dem 47-Jährigen und der 23-Jährigen eine turbulente Liebesbeziehung. Martinü war seit 1931 mit der Französin Charlotte Quennehen (1894 — 1978) verheiratet, die mit ihrem Beruf als Schneiderin die ökonomische Situation des Paares sicherte.'” Dennoch planten Martinü und Kaprälovä, durch die politischen Ereignisse alarmiert, eine Emigration und ein gemeinsames Leben in Amerika. Während dieser Amour fou gelang ihr am 17. Juni 1938 bei den Weltmusiktagen der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik in London der internationale Durchbruch. Als aufsteigender Stern vertrat Kaprälovä mit ihrer Militär-Sinfonietta als einzige Frau ihres Landes die tschechische Gegenwartsmusik. Sie brillierte wieder in einer Doppelfunktion — als Dirigentin und Komponistin. Die Ovationen des Publikums wollten kein Ende nehmen, sie wurde achtmal zum Auftritt gerufen.'® Auch der Daily Herold widmete Kaprälovä eine Schlagzeile: „Girl Conducts Symphony“. Diese Verniedlichung der dreiundzwanzigjährigen Frau zeigte, mit welcher Schwierigkeit männliche Rezensenten auf weibliche Qualifikation reagierten. Durch die Radioübertragung aber gelangte ihr Werk bis nach Amerika. Mai 2016 55