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können.° Olga Luchaire, die sich auch Anne Lalo& nannte, bewohnte mit ihrem Mann Marcel Lalo&, einem Maler und Autor, der auch in „LES REVERBERES“ Textezu Erik Satie und anderen Komponisten veröffentlichte, ein großes Atelier in Montparnasse, 26, rue des Plantes, wo es auch immer wieder zu Aufführungen der „Reverb£res“ kam. In dem Haus wohnte zu diesem Zeitpunkt auch Max Ernst, der mit dem Ehepaar eng befreundet war, und übrigens auch der spätere Anführer der französischen Rösistance Jean Moulin, wenn er, 1938 noch hoher Beamter, nach Paris kam. Die „Reverb£res“ fanden bald eine fixe Spielstätte, und zwar im meist von deutschsprachigen Flüchtlingen benützten Kellerlokal „Caveau Camille Desmoulins“ im Palais Royal. Dort trat seit März 1934 regelmäßig die deutschsprachige Exil-TheaterTruppe „La Lanterne“ (Die Laterne) auf. Dieses aus dem Berliner SchauspielerInnenkollektiv „Truppe 1931“ entstandene Ensemble führte Chansons, Theater- und Kabarett-Programme mit eigenen Beiträgen sowie von Friedrich Wolf, Ferdinand Bruckner, Bert Brecht, Heinrich Heine, Kurt Tucholsky auf. Ein damals auch in Paris berühmtes Mitglied der „Lanterne“ war die erste Brecht-Interpretin Frankreichs, die franko-deutsche Sängerin und Schauspielerin Marianne Oswald. Bald nach Beginn des Weltkriegs wird die Zeitschrift „LES REVERBERES“ ihr Erscheinen, die Gruppe ihre Aktivität einstellen. Nur eine Provokation wird sie sich während der Besatzungszeit erlauben, nämlich Ende Juli 1941 eine Ausstellung zur Verteidigung der Avantgarde, der „entarteten Kunst“. Diese fand in der Galerie Matieres et Formes, 70, rue Bonaparte, statt. Die „Propagandastaffel“ der deutschen Botschaft hatte ihre Leute zur Beobachtung geschickt. Diese berichteten ganz beruhigt, dass trotz Moderner Kunst und KünstlerInnen von Politik weit und breit keine Spur zu schen gewesen sei. Den PariserInnen wurde ja von den Deutschen so einiges an kulturellem Programm erlaubt, solange sie sonst brav kollaborierten. Neben Werken von weitgehend unbekannten KünstlerInnen waren auch Bilder des seit 1936 in Paris lebenden Wiener KünstlerInnenpaares Greta Freist und Gottfried Goebel zu schen gewesen. WV André Breton hatte zu diesem Zeitpunkt das Land dank Varian Frys Hilfe schon vor einigen Monaten verlassen. Aufdie US-Visen für sich und seine Familie hatte der Begründer des Surrealismus mit etlichen FreundInnen in der Villa Bel-Air außerhalb von Marseille gewartet, die deshalb auch den Namen „Espervisa“ trug. Im Haus wohnten André Breton mit seiner Familie, Marcel Duchamp, Victor Brauner, Oscar Dominguez, Max Ernst, Wifredo Lam, Jacqueline Lamba, André Masson. Robert Rius kam oft auf Besuch und brachte Nachrichten aus Paris. Am 22. Oktober 1940 sollte André Breton noch verhaftet werden, nicht weil man ihn den Deutschen ausliefern wollte, sondern weil das neue Staatsoberhaupt Pétain Marseille einen Besuch abstattete. So wurden alle verdächtigen Personen für die Zeit dieses Besuches auf das Schiff „Sinaia“ weggesperrt. Man befürchtete einen Anschlag auf den Diktator, durchgeführt z.B. vom „Anarchisten“ Breton, denn als solcher wurde der Dichter von der Polizei geführt.’ 58 _ ZWISCHENWELT Am 25. März 1941 konnten Andre Breton und ca. 300 Intellektuelle und Angehörige an Bord des Frachters „Capitaine PaulLemerle“ Frankreich Richtung USA verlassen. Am 24. April gab es eine Zwischenstation in Fort de France (Martinique/Frankreich). Die Passagiere wurden zwar von den der Regierung in Vichy unterstellten Behörden der Insel interniert, konnten sich aber trotzdem in der Stadt frei bewegen. Durch Zufall konnte Andre Breton Kontakt zu der vom Dichter Aimé Césaire — zu diesem Zeitpunkt Lehrer—geleiteten Zeitschrift ,, Tropiques“ aufnehmen, von deren Existenz er gar nichts geahnt hatte, deren Redaktion jedoch dem Surrealismus sehr zugeneigt war. André Breton war über seine Entdeckung erstaunt: Ich traute meinen Augen nicht, aber das, was da gesagt wurde, das war das, was gerade gesagt werden musste! [...] So war die Stimme des Menschen nicht gebrochen, gedeckt, kam sie hier zutage, so wie die Ähre des Lichtes selbst. Am 16. Mai verließ Andre Breton, nachdem er einige Texte für Aime Cesaires Zeitschrift geschrieben hatte, die Insel. Und ab März 1942 konnteerinNYC als Sprecher für die französische Abteilung des im selben Jahr gegründeten Radiosenders „Voice of America“ des „United States Office of War Information“ arbeiten. Rund drei Mal die Woche verlas er am Nachmittag Nachrichten und Meldungen. Geleitet wurde Bretons Abteilung vom ehemaligen Pariser Impresario, Theatermann, Journalisten Pierre Lazareff. KollegInnen waren u.a. der Ethnologe Claude Lévi-Strauss, der Schauspieler Yul Brynner, der Schriftsteller Klaus Mann. Im Juni 1942 erschien in New York City die erste Ausgabe der von André Breton und Marcel Duchamp ins Leben gerufenen Zeitschrift ,VWVV“ (4 Nummern bis 1943). Die drei V standen für: ven, Wunsch, für victoire, Sieg, und zwar über die entfesselten mörderischen Kräfte, welche gerade die Welt prägten, und fiir vue, Blick, aber auch Ausblick, Einblick, Blick in sich. Der Untertitel „Poetry, Plastic Arts, Anthropology, Sociology, Psychology“ war Programm und man war offen für Beiträge aller antifaschistischen Exil-Intellektuellen?. Eswurden Texte und Arbeiten von Benjamin Péret, Pierre Mabille, Max Ernst, alle im Exil, abgedruckt sowie Andre Bretons Essay über den „Surrealismus in der Zwischenkriegszeit“!°, den er am 10. Dezember 1942 vor Studierenden der Yale-Universität gehalten hatte. „/VV“ konnte dank der finanziellen Unterstützung u.a. des US-amerikanischen Malers und Bildhauers David Hare und des Kunstsammlers Bernard J. Reis erscheinen. Letzterer war ein Mann, der „immer alles wußte undallen Leuten aus der Klemme half“"', wie Peggy Guggenheim schreibt, z.B. als esdarum ging, ihren Ehemann Max Ernst, der in den USA als feindlicher Ausländer interniert worden war, wieder frei zu bekommen. Die alte Garde des Surrealismus hatte in New York auch bald ein Stammcafe, nämlich das „Benihana-Larre’s French Restaurant“ in der West 56th Street, Nr. 50, nicht weit entfernt von Andre Bretons Wohnung. Auch wurden Ausstellungen organisiert, so im März 1942 in der „Pierre Matisse Galery“, der Galerie des Sohnes von Henri Matisse, im Flatiron Building in der 57th Street, auf Nr. 41, also um die Ecke vom French Restaurant. In der „Artists in Exile“-Ausstellung war jeweils eine Arbeit von Roberto Matta, Ossip Zadkine, Yves Tanguy, Max Ernst, Marc Chagall, Fernand Léger, André Breton, Piet Mondrian, André Masson, Amédée