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Alle diese Flüchtlinge sind doch letztlich Emigranten. Nur wer in große geistige oder existenzielle Not geraten ist, verlässt Heimat und Freunde, um andernorts ein oft demütigendes Asyl zu suchen. Die Literatur und wissenschaftliche Betrachtungen darüber bieten ausreichend Belege über sogenannte Auswanderungsbewegungen vergangener — auch sogar nicht so ferner — Zeiten. Beispiele menschlicher Tragik dokumentierte zuhaufbesonders die Exilforschung anhand unterschiedlicher Biografien durch Faschismus, Rassismus und Krieg Verfolgter und Vertriebener. Es genügt nicht mehr, dass darüber längst viele Bücher geschrieben und Zusammenhänge erforscht, indem Dokumente archiviert und Berichte aktualisiert wurden - nun, da Zeitzeugen nur noch dadurch zur Wachsamkeit mahnen können, dürfen ihre Zeugnisse nicht in den Regalen verstauben: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem die Bedrohung einst kroch! Die Erinnerung an Einzelschicksale bleibt m.E. dabei von großer Bedeutung, um besonders die Nachgeborenen emotional zum Nachdenken anzuregen. Unter diesem Aspekt sei nachfolgend über das Schicksal Maria Leitners (1892 — 1942) berichtet. Verwehte Lebensspuren Im November 1938 begingen die antifaschistischen deutschen Schriftsteller in Paris mit einer Festwoche das fünfjährige Bestehen ihres Schutzverbandes im Exil, welches mit dem insgesamt dreiBigjährigen Bestehen des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller (SDS) zusammenfiel. Auch Maria Leitner war als langjähriges Mitglied unter den Teilnehmenden. Ihr „Pariser Brief über das literarische Leben der deutschen Emigranten“ für die Zeitschrift Internationale Literatur (Moskau) gleicht einer Bestandsaufnahme. „Die Lage der emigrierten Schriftsteller wird immer schwieriger. Sie verlieren durch die Hitlerschen Gewaltmethoden nacheinander ihre Leser. Viele von ihnen müssen wiederholt flüchten, viele konnten nur das nackte Leben retten, viele hungern, alle sind von der Heimat abgeschnitten, und doch - es ist wie ein Wunder - gedeiht diese geflüchtete Literatur in dem kargen Boden der Verbannung üppig.“' Damit charakterisierte sie auch ihre eigene Situation. Ihr Roman Hotel Amerika (1930) und die Reportagesammlung Eine Frau reist durch die Welt (1932) hatten Maria Leitner über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt gemacht; ebenso wie ihre sozialkritischen Veröffentlichungen über das Leben einfacher Menschen in Deutschland - ihrer Wahlheimat.” Eigentlich war sie eine gebürtige Ungarin; eine „Alt-Österreicherin“. In Budapest mit zwei Brüdern aufgewachsen, begann sie nach dem Studium der Kunstgeschichte in Wien und Berlin eine journalistische Karriere u.a. bei der Budapester Zeitung Az Est (Der Abend). Weil sie sich aber in den stürmischen Monaten der ungarischen Revolution 1919 an der Seite ihrer Brüder für die Räterepublik engagiert hatte, musste sie nach dem Sieg der Konterrevolution vor deren Terror fliehen. Ende 1919 kam sie als Emigrantin über Wien nach Berlin. Sie arbeitete zunächst im Verlag der Kommunistischen Jugendinternationale, zu deren Mitbegründern ihr Bruder Johann (1895 — 1925) gehörte, der unter den Namen Janos Lékai bzw. John Lassen als Revolutionar und Schriftsteller bekannt wurde. In den Jahren 1925 bis 1928 und 1930/31 reiste sie für den Berliner Ullstein-Verlag durch Nord-, Mittel- und Süd-Amerika. Ihre Reportagen erschienen in auflagenstarken Blättern dieses Verlagsimperiums. Ende der 1920er 64 ZWISCHENWELT Jahre publizierte sie verstärkt auch bei linksliberalen Zeitungen wie Die Welt am Abend (Berlin). In österreichischen, sudetendeutschen und tschechischen Blättern erschienen zunehmend Nachdrucke ihrer Veröffentlichungen. Eine dadurch gesicherte materielle Basis ermöglichte ihr das Leben als unabhängige Frau und Autorin. Durch enge persönliche Kontakte über die Familie ihres damals in Berlin lebenden Bruders Max zu Berliner Arbeiterfamilien verlor sie nie die Bodenhaftung. Max Leitner (1892 — 1942 ?), ein Journalist, war ab 1928 für die von Willi Münzenberg mitbegründete Liga gegen Imperialismus in Berlin tätig. Für deren antikolonialistische Ziele engagierte sie sich ebenso wie für die Internationale Arbeiterhilfe (IAH). Maria Leitner erkannte frühzeitig die von der nationalsozialistischen Bewegung drohenden Gefahren. Die Anzeichen geheimer Kriegsvorbereitungen beunruhigten sie, wie ihre Texte aus jener Zeit dokumentieren. Nachdem Ende Januar 1933 Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg die Regierungsgewalt übertragen wurde und die Anhänger der NSDAP mit einer bis dahin beispiellosen Terrorwelle ihre politischen Gegner gewaltsam auszuschalten versuchten, verließ sie Deutschland. Als gebürtige Ungarin schützten sie eigentlich der Sonderstatus für Ausländer und der „frisierte“ Pass aus den Jahren ihrer Amerikareisen. Aber das jüdische Geburtsregister in Varazdin verzeichnet die Geburt einer Mariska Leitner für den 19. Januar 1892. Doch sie benutzte spätestens seit ihrer Flucht aus Ungarn einen österreichischen Pass, der sie als am 23. Dezember 1893 geborene Ungarin römisch-katholischer Konfession auswies. Dieses Dokument ermöglichte ihr vermutlich nach 1933 weiterhin Recherchereisen nach Deutschland. Die auch ihr letztlich vom zunehmenden Antisemitismus drohenden Gefahren hat sie u.a. in ihrer Burgenland-Novelle Sandkorn im Sturm (1929), dem Elisabeth-Roman (1937) sowie in der Danziger Geschichte (1939) thematisiert. Nachdem ihr Roman Hotel Amerika bereits den Bücherverbrennungen vom Mai 1933 anheimgefallen war, stand auch sie auf „Schwarzen Listen“. In Deutschland, wo sie eine neue Heimat gefunden zu haben glaubte, konnte sie demnach ab 1933 nicht mehr leben, in das von Nikolaus Horthy regierte Ungarn nicht zurückkehren und in Österreich letztlich auch nicht bleiben. Sie tauchte angesichts der bedrohlichen Situation vorerst in Berlin unter, fand eine kurze Zeit Zuflucht bei Trude Richter, der Sekretärin des Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller (BPRS), bevor sie sich zu einer erneuten Emigration entschloss.? Über Prag reist sie zunächst nach Wien. Sie berät dort mit Josef Luitpold Stern, dem Obmann der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller, journalistische Pläne und bitte um finanzielle Unterstützung. Auskunft darüber gibt eine Anfrage Sterns vom 30. Oktober 1933 an den Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei (SDAP) in Wien‘: „Ich habe eben eine Unterredung gehabt mit der bekannten und bedeutenden Schriftstellerin Maria Leitner, der Verfasserin der beiden Bücher Hotel Amerika und Eine Frau reist durch die Welt. Genossin Leitner hat die Absicht, nach Deutschland zurückzukehren. Sie will zunächst auf einer Reise durch Bayern, Mitteldeutschland und Ruhrgebiet das Deutschland von heute wirtschaftlich, politisch und kulturell beschreiben. Sie braucht hierzu für etwa einen Monat S 1000.-. [...] Ich gestatte mir die