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Ulf Birbaumer Das Lager im Kopf Armand Gatti: Exil und Widerstand 2014 ist der große französische Poet mit piemontesischen Wurzeln Armand Gatti 90 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlaß veranstaltete die Theodor Kramer Gesellschaft im Republikanischen Club eine kleine Würdigung seines Schaffens der „Parole errante“ mit anschließender Vorführung seines Lagerfilms „L’Enclos“ (Einfriedung, Verschlag), der 1960 in Slowenien unter seiner Regie gedreht wurde. Grund genug, sich seines vielfältigen CEuvres (Reportagen, Theaterarbeiten, Fließtexte, die er als paroles errantes definiert, Zielgruppenarbeit, Film- und Videoproduktionen), das immer wieder konkrete Beziehungen zu Wien aufweist, neuerlich zu erinnern. Kennengelernt habe ich Armand „Dante Sauveur“ Gatti 1968 während der Theaterbiennale in Venedig, deren Leiter Wladimiro Dorigo im Teatro La Fenice die Uraufführung von „La Naissance“ (Die Geburt) in der Regie von Roland Monod (Bühne: Hubert Monloup) in Zusammenarbeit mit den Pariser „Productions d’aujourd’hui“ herausbrachte. Die Einladung zum damals wichtigsten europäischen Theaterfestival kam im richtigen Moment, stand Gatti damals doch als Autor wie als Regisseur am Höhepunkt seines Iheaterschaffens für die eher etablierte Bühne, wenn auch mit prononciert linker politischer Tendenz wie das Ih&atre de PEst Parisien (TEP) und das Théatre National Populaire (TNP) in Paris oder Planchons Theater in Villeurbanne (Lyon) sowie Theater in Toulouse und Marseille, wo die Direktoren und Regisseure seinem widerständigen „univers spectaculaire“ nahestanden. Stücke wie „Le poisson noir“ (Der schwarze Fisch), „La vie imaginaire de Peboueur Auguste G.“ (Das imaginäre Leben des Straßenkehrers Auguste G.), seinem bei einer anarchistischen Gewerkschaftsdemonstration in Monaco erschlagenen Vater gewidmet, „La deuxieme existence du camp de Tatenberg“ (Die zweite Existenz des Lagers Tatenberg), „La passion du general Franco“ (Die Leiden des General Franco) fanden auch den Weg auf deutsche Bühnen. „La Naissance“ thematisiert, wie immer bei Gatti aktionistisch, aber poetisch verschlüsselt, den Guerillakampf in Guatemala gegen die US-Dominanz und die kolonialistisch ausbeuterische United Fruit Company. Bei der Pressekonferenz im Foyer habe ich Gatti auch gleich wütend geschen, als er die wie Christbäume schmuckbehängten pseudolinken italienischen Bürgermädchen — er selbst war kurz zuvor von der guatemaltekischen Guerilla zuriickgekehrt — ziemlich riide des Saales verwiesen hat. Jahre spater habe ich ihn in Novi Sad an der vojvodinischen Donau beim jahrlichen jugoslawischen Theaterfestival Sterijino Pozorje wiedergesehen; oben, im Hotel auf der mariatheresianischen Festung von Petrovaradin (Peterwardein), vis-a-vis der Stadt, anläßlich des parallel zum gesamtjugoslawischen Theatertreffen abgehaltenen internationalen Kongresses der Theaterkritik, gemeinsam mit Jean Duvignaud, Georges Perec, Georges Banu, André Camp, Armand Delcampe, Bernard Dort u.v.a.; Gatti, ganz in Schwarz und mit kleiner Reisetasche. Schelmisch gelaunt und sichtlich willens, den goldenen Käfig der etablierten Kritik aufzubrechen und die selbstbewußte Daumen-rauf-Daumenrunter-Gesellschaft gründlich aufzumischen. Während der Tagung und auch danach, zu den faszinierenden Klängen der dortigen Roma-Kapelle unter dem Primas mit dem Kontrabaß, der aussah wie Sidney Bechet, wenn auch mit einem anderen Instrument. Die 80er Jahre führten Gatti mehrfach auch nach Wien. 1984 lud ihn das Institut Frangais unter seinem Direktor Michel Cullin zu Filmvorführungen (u.a. L’Enclos) und Gesprächen über seine Theaterarbeit ein. Das Burgtheater, wo Klaus Höring gerade „Die zweite Existenz des Lagers Tatenberg“ für das Akademietheater inszenierte, versäumte es leider, den Autor zu kontaktieren oder ihn in die Probenarbeit einzubeziehen. Er besuchte die Generalprobe. Kommentarlos. Die bemühte Aufführung hinterließ das Publikum „unter der Zirkuskuppel — ratlos“. So ratlos, daß mich die Direktion bat, bei den paar Aufführungen eine knappe Einleitung zu sprechen; ein prinzipiell hilfloser Versuch, eine Theateraufführung verständlicher zu machen. 1986 lud ihn die französische Kulturabteilung nochmals ein. Diesmal auch ins Dramatische Zentrum Wien, wo er mit dort arbeitenden Schauspielern und ausgewählten Mitwirkenden einen Workshop zu Ulrike Meinhof gestaltete und das Ergebnis ebendort präsentierte. Diese erfolgreiche Arbeit eines „Theaters ohne Zuschauer“ führte ihn ein Jahr später wieder ans Dramatische Zentrum, dessen offene Form seiner freien Theaterarbeit schr entgegen kam, ähnelten die hiesigen Arbeitsbedingungen doch denen für seine stages spectaculaires im 1982 in Toulouse installierten Atelier de création populaire, das er Arch&opteryx nannte, eine Arche Noah für widerständiges spectacle vivant, unter anderem für seinen „Zug von Auschwitz“, an dem er in Wien weiterarbeitete, ausgerechnet zur Zeit des sogenannten Waldheim-Skandals. Doch zuvor noch zu seiner Biographie, einer Biographie als theätre verite. In seinem Stück „La Cigogne“ (Der Storch, 1967) findet das durch die Folgen der Atombombe auf Hiroshima tödlich verseuchte Mädchen Tomiko eine für das gesamte Werk Gattis gültige Metapher: Nicht alle Störche fliegen in den Wolken. Es gibt auch Störche, die auf der Erde fliegen, die für sie auch eine Art Himmel ist. Siebenmal zu Boden geworfen, erheben sie sich achtmal. Das ist ihre Art zu fliegen. Das ist auch die Metapher für Gattis Leben. Eine proletarische, eine verwegene Biographie. Armand „Dante Sauveur“ Gatti (ein anarchosyndikalistischer Vorname, der bei den italienischen Emigranten in Chicago seit dem Tod von Sacco und Vanzetti häufig war) ist am 26. Jänner 1924 in den Armenvierteln von Monaco zur Welt gekommen. Er entstammt einer schr armen Familie aus dem Piemont. Sein Vater arbeitete bei der städtischen Müllabfuhr und war prominentes Mitglied der linksanarchistischen Gewerkschaft. In den sog. bidonvilles war Kinderarbeit eine Selbstverständlichkeit. Ebenso der permanente politische Widerstand. 1942 wurde Auguste Gatti bei einer Streikdemonstration erschlagen (davon handelt das Stück „Der Tod des Straßenkehrers Auguste G.“). Für Dante Sauveur erwuchs aus diesem gewaltsamen Tod des Vaters die Verpflichtung zum Widerstand. Zwei Jahre später wird er im Maquis von Corr£ze aktiv in der Resistance, unter dem Partisanennamen Don Quichotte. Das Mai 2016 69