OCR
Versteck wird bald von den Kollaborateuren ausgehoben, Gatti gefangengenommen. Die Folgen: Gefängnis von Tulle, Gerichtsverfahren in Limoges, Verurteilung zur Deportation, Vollzug in einem deutschen Lager nahe Hamburg, schließlich Verlegung in ein Arbeitslager nahe Bordeaux. Von dort gelingt ihm die Flucht - eine italienische Wache läßt ihn laufen. Er landet bei den französischen Brigaden in England. Mit den Fallschirmspringern des SAS (Special Air Service) kehrt er im Spätherbst 1945 nach Frankreich zurück und versucht in Paris Fuß zu fassen. Er arbeitet tagsüber als Journalist (beim Parisien Libéré), nachts als Poet. Er trifft Philippe Soupault und Jean Michaud; bewundert Henri Michaux. Jean Michaud (Kommentator im ORTF) gegenüber bezeichnet er seine Zeit in der Résistance als die Geburtsstunde seines Theaters, ein Theater aus dem Maquis. Denis Bablet gegenüber äußert er sich später einmal in einem Interview: . ich bin in dieses Erdloch gekrochen. Ich habe begonnen zu träumen: die Welt, Europa; alles zu erträumen, was man tun müfste, um Veränderungen zu bewirken... Ich glaube, Theater zu machen bedeutet für mich die Rückkehr in diesen Graben.' Sein Theater erscheint aus dem Widerstand heraus konzipiert und wird so ein Mittel zum politischen Widerstand. Damit wird es zu einem Theater, das spaltet und nicht zu einem, in dem sich alle wiederfinden. In diesem Punkt ist Gatti „brechtisch“. Und noch in einem weiteren: seine Theatertheorie basiert auf der Aktivierung. Sein Werk ist dem homme insurge gewidmet, dem aufrührerischen Menschen. Dieser aufrührerische Mensch lebt gefährlich. Gattis Vater wurde zum Opfer. Der kämpferische Sohn ist der letalen Folge mehrfach entkommen. Das Opfer, vor allem das des univers concentrationnaire, steht im Mittelpunkt seines CEuvres. In einem Gespräch sagt er: Ich war immer vom Thema des Opfers gefesselt gewesen, die ErJfahrung des Konzentrationslagers hat mich lange verfolgt ... das KZ läßt sich nicht mehr aus meinem Bewufsisein verdrängen. Das Lager im Kopf ist immer gegenwärtig. Verwendet Gatti in „LEnfant-Rat“ (1960) (Das Rattenkind) auf eher abstrakte Weise die Passionsparabel, so wird er in seinem Film „L’Enclos“ sowie in seinem Theaterstück „Die zweite Existenz des Lagers Tatenberg“ (1962) konkreter. Konkret bedeutet nicht, daß Gatti ein Verfechter des Dokumentationstheaters wäre. Im Gegenteil: Mifstrauisch gegenüber der Manipulierbarkeit isolierter Dokumente, hat er es immer für erforderlich gehalten, dokumentarisches Material nur innerhalb einer poetischen Grundsituation zu verwenden.’ Poetisch, das ist das Metaphorische, das Imaginäre. Dazu Gatti in einem Gespräch 1967: Mir persönlich schien immer, daf es eine Realität gibt, von der der Mensch mächtig aufgerüttelt wird: von seiner Vorstellungskraft. Für mich ist das Imaginäre keine Flucht aus der Wirklichkeit. Das Imaginäre ist eine sehr konkrete Angelegenheit, es hat den Charakter einer eigenen Wirklichkeit. Zeigt man diese imaginäre Dimension nicht, die zum Menschen gehört, so amputiert man ihn. Kommentar von Wolfgang Schuch: Das imaginäre Theater des Armand Gatti ist auf eine perfektionierte Montagetechnik gegründet. Gatti arbeitet mit simultanen Zeit- und Handlungsebenen und macht mit Bruchstücken sich überlappender 70 ZWISCHENWELT Ereignisse aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Bewufstseinsprozesse sichtbar. Beabsichtigt ist die grofstmégliche Einheit einer Struktur des Nebeneinander und einer Struktur des Nacheinander? In „EEnfant-Rat“ - Untertitel: ein Altes Testament, vier Evangelien, ein Unter-Evangelium und ein Neues Testament — begegnen wir den anciens eines Nazi-Salzbergwerks, die das normale Leben wiederzufinden trachten durch die unauslöschlichen Spuren ihres Martyriums, durch ihre Leiden, ihre Kämpfe, durch die Erinnerung des Mordes, den sie an einem der Ihren begangen hatten. Dieses letzte Ereignis dient als Katalysator für verschiedene Versionen (oder Evangelien), in denen die Enthüllungen der verschiedenen persönlichen Narrative dargestellt werden. Durch aktuelle Ereignisse wie eine Polizeienquéte in Monte Carlo, krude Zirkusspiele in Deutschland, einem Streik in einer Fabrik in Aubervilliers, den Prozeß gegen eine Giftmischerin vermittelt sich die Permanenz der Ängste, der Erniedrigungen, der Revolten. Jeder der Deportierten erinnert sich, wie für ihn die Geburt des Enfant-Roi im Stall ersetzt wird durch die Geburt des Enfant-Rat in der Salzmine. Das sprachlich dichteste Stück, verworren poetisch und berührend leidvoll, ist wohl „Die zweite Existenz des Lagers Tatenberg“, 1962 uraufgeführt im Ih£ätre des Celestins in Lyon. Armand Gatti: Das Stück beschwört, wie die Tore des Lagers aufeinmal geschlossen, die Deportierten einen Teil des Lagers mit sich genommen haben und wie dieses ganz kleine Lager sich gesamteuropäisch vergrößert, weil es in diesem Augenblick in und mit ihnen präsent ist.* Das Lagerleben, wie es zwei Jahre zuvor in dem Film „L’Enclos“ von innen gezeigt wird, ist hier lediglich historischer Ausgangspunkt. Gatti stellt das Parallellager im Bewußtsein der beiden Hauptfiguren dar, eines baltischen Juden und ehemaligen Deportierten, der mit einer Drehorgel, einer Art orgue de barbarie, die Lagererinnerungen beschwört, und einer Marionettenspielerin, der Witwe eines Gefreiten der Hitlerarmee. Da lieben einander zwei Menschen in all ihren Gesten des Alltäglichen, aber ihre gegensätzlichen Erinnerungen setzen den Krieg fort. Auf dem Kirtag in Grein an der Donau versuchen die beiden aus dem stilisiert dargestellten Gerümpel der Kriegs- und KZ-Erlebnisse herauszufinden. Doch die Vergangenheit ist übermächtig; ihre Liebe scheitert am „Entsetzen des Jahrhunderts“. In Wien dann, der Stadt der Illusionen, auf dem permanenten Jahrmarkt im Prater, lassen sich die Schatten der Wehrmacht und des Lagers erst recht nicht besiegen. Auf drei Ebenen — im Konzentrationslager, im ‚imaginären‘ Lager des Kriegsendes und im kreiselnden Amiisierbetrieb des Jahrmarkts — ist der Mensch von den Visionen seiner Angst und Unruhe umstellt. In filmischer Montagetechnik zwischen ‚Aktualität‘ und ‚Rückblende‘ dieser assoziativen Entladungen ins Szenische zum eigentlichen Träger des Geschehens. Die genannte dramaturgische Technik führt uns zwei Jahre zurück zum Film „L’Enclos“, gedreht im jugoslawischen Slowenien. Hier geht es nicht um die zweite Existenz von Tatenberg; hier geht es um Tatenberg selbst. Und es geht, was die künstlerischen Ausdrucksmittel betrifft, um die Benutzung einer anderen Sprache als der theatralen oder der literarischen. Die Filmsprache scheint dem Lagerthema jedenfalls angemessen, denn das Lager ist für den Deportierten (Gatti) ein espace hors texte, ein Raum außerhalb des Textes.