OCR
Der übliche Zugang, so Gatti, sei ein Zugang von außen: mit Hilfe von Horrorbildern von aufgestapelten Leichen, mit Hilfe der Vision des Schreckens. Dagegen wollte der Filmemacher Gatti aufbegehren, schon allein deshalb, weil der vielfach wiederholte Schrecken auf der Leinwand als Teil der ganz normalen Bilderwelt nachgerade verdaulich geworden scheint. „LEnclos“ ist die Vision eines ganz anderen univers concentrationnaire durch den Versuch, das Lager von innen zu zeigen; nicht ohne Schrecken, aber mit dem Fokus auf den solidarischen Menschen, den homme révolté. Das Lager ist fiir Gatti kein Unfall der Geschichte, sondern vielmehr eine Parallelwelt zu jener genau definierbaren Gesellschaft, die es geschaffen hat. Das filmische Narrativ zeigt nur, was im Lager selbst abläuft, bis auf wenige Hintergrundinformationen zu den Hauptfiguren. Sonst zählen nur die im Lager gelebten Momente. Gatti zeigt, daf$ Menschen, selbst in einer so unzugänglichen Welt, wie sie das Lageruniversum ist, versuchen können, so etwas wie Brüderlichkeit zu üben, daß sie einen Mithäftling, der in Gefahr ist, retten wollen. Dazu dient ein dramaturgisch einfacher Plot. Der Lagerleiter und der Oberaufseher (Herbert Wochinz) schlieen eine zynische Wette ab. Ein deutscher Kommunist (Hans Christian Blech) und ein russischer Jude aus Paris (Jean Negroni) werden gemeinsam in einen Verschlag gesperrt. Mal sehen, wer wen tétet. Die Wette gilt... Uberraschendes Resultat: der Kommunist kann durch einen Trick mit einer „falschen Leiche“ von Genossen gerettet werden. Der Jude „überlebt“ - vorerst. Aber er hat „deutsches Blut vergossen“. Sein Ende im Gas ist beschlossene Sache. Trotz der ohne Sentimentalität gezeigten Innensicht der Lagermechanismen berührt die Schlußsequenz des Films, die aufeiner oft dokumentierten Situation beruht. Wieder einmal werden die Nummern zahlreicher Häftlinge, darunter die der jungen slawischen Protagonistin (die wunderbare Tamar Miletic) und des Pariser Juden, aufgerufen. Zum Appell und zum folgenden Abtransport ins Gas. Die Lagerkapelle ist angetreten, um die übliche fröhliche Musik zu spielen und so den wahren Anlaß zu verschleiern. Doch plötzlich, auf ein klandestines Zeichen in brüderlich-solidarischer Übereinkunft, bricht der fröhliche Marsch ab, und es ertönt der bekannte Trauermarsch, der längst zu einer geheimen Hymne der Konzentrationslager geworden war. Während die zum Tod bestimmten Opfer in den Transportwagen steigen, huscht über die ernsten, verzweifelten bis gelassenen Gesichter der Häftlinge ein Lächeln der Genugtuung, ja des Triumphs, der Befreiung von einer Last.‘ Ende der sechziger Jahre kommt es zu einem De-facto-Auszug Gattis aus dem etablierten Theater. Anlaß dafür war das Verbot der Uraufführung von „La passion du General Franco“, die im Pariser Théatre National de Chaillot vorgesehen war. André Malraux untersagte die Aufführung vor dem politischen Hintergrund der spanisch-französischen Beziehungen. Gattis Antwort war ein Impromptu unter dem Titel „Das Verbot des Leidens von General Franco“ unter Jean-Marie Lancelot. Die aufsehenerregende Politsatire bewirkte, daß Gatti und seine Truppe endgültig zu personae non gratae in Frankreich wurden. Er wich mit Produktionen wie „Rosaspartakus“ (Rosa Luxemburgs Schicksal wird aus der gegenwärtigen Situation in Form einer TV-Debatte theatralisch dargestellt) und „Vier Schizophrenien auf der Suche nach einem Land, dessen Existenz umstritten ist“ nach Kassel und Berlin aus, um sich in der Folge theatraler Zielgruppenarbeit und soziokulturellem Animationstheater zu widmen. Mit Studenten der belgischen Universität Louvain-la-Neuve erarbeitet er in „La Colonne Durruti“ Episoden des republikanischen Kampfes gegen Franco im Spanischen Bürgerkrieg, mit „Ambiorix“ und „LArche Adelin“ versucht er aleatorische Dorfarbeit im wallonischen Brabant, in „Le lion, sa cage et ses ailes“ (Der Löwe, sein Käfig und seine Flügel) schildern die Gastarbeiter der Peugeot-Werke im nordfranzösischen Montbeliard mit den Mitteln der Plakatkunst, mit Film- und Videoanimation ihre Situation am Arbeitsplatz und ihr hartes Leben in der Fremde, in Ulster steht seine engagierte TIheaterarbeit im Zeichen des IRA-Helden Bobby Sands. Auch in dieser Arbeitsphase stehen Resistance und „Lager im Kopf“ im Mittelpunkt. 1978 begibt sich Armand Gatti mit Hilfe seiner Partnerin Helene Chatelain, seinem Sohn Stephane und einer Video-Equipe auf die Spurensuche nach einem blutjungen Widerstandskämpfer aus der Region Vitry: Roger Rouxel. Grundlage war dessen letzter Brief vor der Erschießung (1944), den er an die 16-jährige Mathilde richtete. Dieser letzte Brief war sein erster Liebesbrief; daher der Titel des Videofilms: „La premiere lettre“, 1979. In neunmonatiger Videoarbeit wird mit den Bewohnern einer französischen Kleinstadt das Leben Roger Rouxels nachvollzogen und so zu einem Bestandteil ihres Alltags. Doch abschließend zurück zu Gattis faszinierendem WienAbenteuer von 1987. Es handelt sich um ein work in progress, das der Autor gerne Theater ohne Zuschauer nannte. Begonnen hatte er diese Theaterarbeit bereits 1984 während eines Resozialisierungsworkshops mit Jugendlichen als „Les Arches de No£“. In Wien entstand nun eine deutschsprachige Fassung mit Heinz Neumann-Riegner und Elisabeth Daigfuß unter dem Titel „Die sieben Möglichkeiten des Zuges von Auschwitz“. Die — wie bei Gatti immer vorläufige - Endfassung erschien schließlich als „Les 7 possibilités du train 713 en partance d’Auschwitz‘”. Für Gatti galt es, eine ebenso unglaubliche wie phantastische, in ihrer Grundkonstellation aber wahre Geschichte dem Verschweigen zu entreißen. Nach der Befreiung des Todeslagers von Auschwitz setzt sich ein Eisenbahnzug mit Überlebenden in Bewegung: Juden, Roma und Sinti, politische Gefangene, Wolgadeutsche, die als Kapos fungiert hatten, Katalanen, alte Brigadisten aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Die Opfer der Nazis, bunt gemischt. Der Zug fährt durch Polen und über Teile Rußlands den ganzen Balkan durchquerend wieder Richtung Mitteleuropa, denn kein Land will die Insassen aufnehmen. So nähert man sich wieder Auschwitz, schließlich Mauthausen. Landet der Zug in der Not wieder im Lager, nur unter geänderten Vorzeichen? Er rollt schließlich Richtung Wien, wo er nie angekommen ist. Der Zug verschwand. Man weiß nicht wie und man weiß nicht wohin. Der Zug des Schweigens wird zur Metapher: zum Aufruf auch gegen das sich bald nach Kriegsende ausbreitende Verschweigen. Zu der schon genannten Zugbesatzung fügt Gatti noch die sogenannten enfants X hinzu, die pipels, das sind jene Kinder, die im Lager geboren wurden, die Ärmsten der Armen. Dazu kommen noch sowjetische Kontrolleure und der Zugführer samt der mechanischen Möglichkeit der Lokomotive — ein fast futuristisches Moment. Gatti konstruiert seine sieben Möglichkeiten des Zuges von Auschwitz: die Möglichkeit des Buches, die Möglichkeit, donauaufwärts zu gelangen (es wird cher die Donau hinunter), die Möglichkeit des „blinden Hundes“, die Möglichkeit der gemordeten (auch politischen) Sprache, die Möglichkeit der Kindheit in Auschwitz, die bürokratische Möglichkeit und die Möglichkeit eben der Lokomotive. Mai 2016 7/1