OCR
Am 1. März 2012 schrieb uns Wolf Suschitzky: „Samstag werde ich interviewt. Ein Verwandter — Sohn einer Kusine, der in Paris lebt - will ein Buch über meine Schwester schreiben und meine Erinnerungen aus mirsaugen.“-DerHumorund Witz von Wolf - längst ein gefeierter Fotograf und Kameramann - blitzt auch immer wieder in seinen Briefen auf, so auch an dieser Stelle. Doch je deutlicher durch die Nachforschungen von Peter Stephan Jungk, Sohn des Zukunftsforschers und Atomgegners Robert Jungk, zur Gewissheit wurde, dass Edith Tudor-Hart, Wolfs Schwester, Kommunistin war, fürdie TASS gearbeitetunddie Sowjetunion spionierthatte, umso enger wurde ihm ums Herz. Seine wiederholt geäußerte Meinung, die Verdächtigungen seien „Unsinn“ und haltlos, sind, nach jahrelangen Recherchen, schwarz auf weiß wiederlegt. Nun liegt jenes Buch gelesen vor mir, und ich fühle mich wie betäubt von der Geschichte dieser tapferen Frau, die so viel Unglück hatte — mit den Männern, alsvon Geheimdiensten Verfolgte, mit dem kranken Sohn Tommy - und ihre Leidenschaft, das Fotografieren, aufgeben musste und verarmt früh verstarb. An Leberkrebs, einer Folgederjahrzehntelangen Einnahmedesstarken Schlafmittels Seconal, ohne dem sie nicht mehr zur Ruhe kommen konnte. Für ihre Agententätigkeit hat sie nie Geld gefordert oder erhalten. Sie war eine idealistische Kämpferin, wollte stets, wie ihre zahlreichen Bekannten sie in Erinnerung haben und hatten, helfen, solange sie noch konnte. Ihrjedoch wurde nur selten die Hilfe zuteil, welche sie in ihrer psychischen wie materiellen Notgebrauchthätte. Alsam 15. Mai 1973 im Downs Crematorium von Brighton WolfSuschitzky die Totenredehielt, sah er in seiner Schwester eine „bemerkenswerte Frau: fabelhaft intelligent und völligunabhängig. Vielleicht verstand man nicht immer, was sie umtrieb, vielleicht war sie auch nicht die beste Zuhérerin, aber das lag daran, dass sie schon zwei Schritte weiter war als ihr Gegeniiber. Edith hat nicht viel Gliick gehabt in ihrem Leben. Einige Jahre nach dem Krieg erlitt sie einen Zusammenbruch und gab ihren Beruf auf, obwohl sie eine hervorragende Fotografin war.“ Die Griinde dafiir kannte er nicht; Edith hat iiber ihre Agententatigkeit und die daraus resultierenden Verhöre und zermürbenden Hausdurchsuchungen durch den britischen Geheimdienst MI5, denen sie bis zu ihrem Lebensende ausgesetzt war, nie,auch nichtzu ihren Verwandten, gesprochen. Den Nervenzusammenbruch ausgelöst hat, konkret, die Durchsuchungihrer Wohnung im November 1951 und dann noch eineim Mai 1952. An diesem Tag wurde ihr auch mitgeteilt, siesolle das Fotografieren aufgeben. In der Folge verbrachte sie-widerwilligzuerst-drei Monate im West Park Hospital; mit vierundvierzig Jahren endete ein Abschnitt ihres Lebens, sie war aber auch psychisch und physisch am Ende. Sie stand, wie ihr Biograph dies ausdrückt, vor den 90 ZWISCHENWELT Ruinen ihres Lebens. Berührt wie selten schließt man sich dem Biographen an, der mit seinem Mitgefühl an dieser Stelle nicht hinterm Berg hält: „Sietut mir so leid-in der Nachzeichnung ihres Lebens spüre ich ihre Ängste, fühle ihre Verzweiflung, ihre Einsamkeit. Den Zweifel an sich selbst. Ihren Eindruck, alles im Leben falsch gemacht zu haben.“ Jungk erzählt nicht als allwissender Biograph undnichtmitallden Erkenntnissen von Anfang an. Er benützte dabei Aufzeichnungen, die er langezuvoranlegte, so wie jene tiber Anna Mahler, dieerin den 1980er Jahren über Edith befragte, in der Annahme, sie vielleicht einmal brauchen zu können. Das Buch - eine Spurensuche, ein geduldiges, umsichtiges Be- und Hinterfragen —hatalso mehrere Ebenen; der Leser wird mitgenommen zu den Recherchen, zu den Zeitzeugen und nichtzuletzt nach Moskau: Acht Jahre lang hat Jungksich bemüht, Zugang zu den Akten im Moskauer Archiv des ehemaligen Geheimdienstes KGB zu erhalten, vergeblich. Er kam zu spät, es gab nur ein kleines Zeitfenster, zwischen 1990 und 1995 etwa, um an Unterlagen zukommen. Er widmet diesen, mal hoffnungsvollen, mal absurden, ja kafkaesken, Nachforschungen und Begegnungen mitehemaligen KGB-Leuten ein ganzes Kapitel, um am Endejene Informationen als brandneu serviert zu bekommen, über die er ohnehin schon aus der Literatur über die Cambridge Five verfügte. Wer war nun diese Frau, deren Aussehen ein britischer Geheimdienstagent, der ihr 1942 in London nachspionierte, als „fremdländischjüdisch“ beschrieb, und die von einem jungen Mann ausgutem Hause, Harold Adrian Russell, derals „Kim“ Philby Geschichte schreiben sollte, das berühmte „Porträtfoto mit Pfeife“ machte? Edith Suschitzky wurde am 28. August 1908 in Wien-Favoriten in der Petzvalgasse geboren (im Straßennamen ist übrigens ein Bezug zur Fotografie eingeschrieben: Der Wissenschafter Joseph Petzval erfand 1840 ein Objektiv, mittels dessen sich die Belichtungszeit von mehreren Minuten auf einige Sekunden verkürzen ließ). Ediths Eltern waren die gebürtige Adele Bauer (die 102 Jahre alt wurde) und der sozialistische Buchhändler und Verleger Wilhelm Suschitzky, der mit seinem Bruder Philipp einen Buchladen in der Favoritenstraße betrieb. Intelligent und belesen verließ sie bereits mit siebzehn das erste Mal das Elternhaus, um sich in London zur Montessori-Pädagogin ausbilden zu lassen. Wieder zurück in Wien begann sie sich nach dem ersten Liebeskummer - sie hatte in der Buchhandlungden um vier Jahreälteren Kunden und Kommunisten Arnold Deutsch kennengelernt - für Fotografie zu interessieren. Gegen den Willen ihrer Eltern studierte sie Fotografie am Bauhaus, damals bereits in Dessau, da das Weimarer Bauhaus seine Gründungsstätte im Jahre 1925 aufgrund des frühen Erstarkens des Nationalsozialismus in Thüringen nach der Landtagswahl 1924 schließen musste. Nach Abschluss des einjährigen Studiums ging sie dann wieder nach London, wurde 1927 Mitglied der Kommunistischen Partei Großbritanniens, wurde daraufhin von Scotland Yard überwacht und 1930 ausgewiesen. Anfang der 30er Jahre entstand dann auch ein umfangreiches fotografisches Werk in Wien, das vor allem durch ihre journalistische Tätigkeit erhalten ist. Edith Tudor-Harts Fotografie kann als ein Beitrag zum engagierten Realismus der Arbeiterfotografie gesehen werden, die durch die Dokumentation der Schattenseiten des Kapitalismus einerseits und durch Beitrage in linken, aufklarerischen Zeitschriften wie Liliput, Der Kuckuck (eine Illustrierte des sozialdemokratischen Vorwärts-Verlags), Der jugendliche Arbeiter, Daily Worker, The Listener, Picture Post und anderen versuchte, eine den Bildwelten der bürgerlichen Presse gegensätzliche Kultur der Arbeiter-Selbstdarstellung zu propagieren. Nachdem sie 1933 wegen kommunistischer Spionagetätigkeit in Wien verhaftet worden war, ging sie mit ihrem englischen Ehemann Alexander Tudor-Hart, den sie am 16. August 1933 geheiratet hatte, wieder nach London. Mitte Mai 1934 schoss Edith im Regent’s Park das berühmte Foto von Kim Philby, nachdem sieihn zu Arnold Deutsch geführt hatte, derihn fürden sowjetischen Geheimdienstanwarb. Das Negativ dieses Fotos, das Kim nach seiner Flucht inseiner Moskauer Wohnunggerahmtundan gut sichtbarer Stelle in der Mitte seines Bücherregals aufgestellt hatte, existiert nicht mehr; Edith hat es, wie viele andere, aus Angst vor Entdeckung durch den britischen Geheimdienst vernichtet. 1936 kam ihr Sohn "Ihomas („Tommy“) zur Welt, deraufgrund seiner psychischen Krankheit zu einer schweren Belastung für Edith werden sollte. Alexander verließ die Familie, engagierte sich als Arzt und Chirurg im Spanischen Bürgerkriegauf republikanischer Seite, ließ überein Jahr nichtsvon sich hören und kehrte dermaßen traumatisiertzurück, dass die Ehein Brücheging. Bis zum frühen Tod seiner Ex-Frau kümmerte ersich nicht mehr um den gemeinsamen Sohn Tommy. In London, den Industrieregionen und Schiffswerften Nordenglands (Northumberland, Tyneside) und den Kohlegruben von Siid-Wales hatte Edith ihre fotografische Arbeit wieder aufgenommen und fortgesetzt, bis sie aufgrund ihrer Agententatigkeit bzw. ihrer Hilfe fiir Rekrutierungen von Spionen fiir die Sowjetunion mehrmals verhört wurde und psychisch wie physisch in Bedrängnis kam. In einem Anfall von Panik verbrannte sie sämtliche in der Wohnung hintereinem Spiegel versteckten Fotos, Negative und Listen. Wieviele Adressen hatte sie doch im Verlaufe ihres Lebens! In dem Jahrzehnt nach ihrem eingangs erwähnten Zusammenbruch Anfang der 50er Jahre und nachdem sie Hals über Kopf die