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Wohnung in den Grove End Gardens verlassen hatte, war sie neunmal umgezogen. Als sie im Frühjahr 1962 ein winziges Haus in Brighton bezog, um fortan als Antiquitätenhändlerin zu leben, hatten die Jahre des Umherirrens ein Ende. Doch der Schein trog, auch hier holte sie die Vergangenheit ein. Nach der Enttarnung von Kim Philby und seiner Flucht nach Moskau besuchten sie Männer des Special Branch um fünf Uhr früh. Wieder einmal wurde ihre Wohnung auf den Kopf gestellt, Schreibtisch, Schränke, Kommoden und Bücherregale untersucht und durchwühlt. Sie wurden nicht fündig; das was von ihrem Berufals Fotografin zeugte, hatte sie längst ihrem Bruder Wolfübergeben (ihr Nachlass, an die fünftausend Negative, befindet sich nun in einem Archiv der National Galleries of Scotland in Edinburgh). Den Männern war es nicht schwer gefallen, sie ausfindig zu machen: An der Fassade ihres Ladens prangte ihr Name und ihre Telefonnummer. Als Edith sie zur Rede stellte und wissen wollte, mit welchem Recht sie an einem Wintermorgen so früh behelligt werde, sagten ihr die Männer, es sei eine Routineüberprüfung. Möglicherweise dachten sie, Kim Philby könnte sich bei ihr versteckt halten, oder sie hofften, Informationen zu seiner Flucht oder zu seinem Aufenthaltsort zu bekommen; denn zu diesem Zeitpunkt wussten MI5 und MI6 noch nicht, wohin er sich abgesetzt hatte. Anfang Juli 1963 verkündeteder konservative Politiker Edward Heath vor versammelten Parlamentsabgeordneten in London, Kim Philby sei also doch ein Doppelagent und Kopf des Spionagerings der Cambridge Fivegewesen. Kim starbam 11. Mai 1988, aufden Tag genau fünfzehn Jahre nach Edith. Das letzte von ihr aufgenommene und mir bekannte Foto von Edith stammt aus dem Jahr 1957. Eszeigteinenschnauzbärtigen, Zigaretten rauchenden Zeitungsverkäufer en face; er sitzt auf einer Holzkiste vor einer Auslage, dahinter bequeme, gepolsterte (!) Stühle, und das Glas gibtals matter Spiegel die Fotografin wieder. Sie trägt eine helle Bluse und blickt von oben auf den Sucher ihrer Rolleiflex, die sie mit beiden Armen in der Höhe zwischen Brust und Bauch fixiert und drückt auf den Auslöser. Ihr Bruder Wolfgab im Jahre 1986 ein schmales Buch mit ihren Fotografien heraus, das langst vergriffen ist. Titel: „Das Auge des Gewissens“. Eine treffende Einschätzung der Arbeit seiner Schwester als Fotografin. Aber wie konnte sie, vor allem in den späteren Jahren, da die Verbrechen Stalins längst bekannt waren, noch immer Kommunistin sein? Dies mit ihrem Gewissen vereinbaren? —Im Zuge seiner Recherchen trifft Jungk auf Vermittlung von Wolfs Sohn, des berühmten Kameramanns Peter Suschitzky, mit dem 1922 in Berlin geborenen einstigen Fotografen und spateren Erfinder radiosynchronisierter Uhren, Herbert Freudenheim, zusammen. Er kannte Edith sehr gut, und im Verlaufe des Gesprächs äußert er sich folgendermaßen: „Willst Du Edith an den Pranger stellen? Wir wussten nichts von Stalins Verbrechen, das kannst du mir glauben. Wir wollten den Faschismus besiegen, Edith hat aus edelsten Beweggründen für den Sieg des Kommunismus gekämpft. (...) Die Kommunisten waren doch die Einzigen, die René Char war Poet, Denker und Partisan. Sein für einen Franzosen außergewöhnlicher Name geht, so die Legende, auf seinen Großvater zurück, der sich Charles le Magne, Karl der Große, nannte und nach Jahren den Namen Char-Magne annahm. Der Enkel René, 1907 in Isle-sur-la-Sorgue geboren, lebt in den 30er Jahren in Paris und an der Seite der Surrealisten, als diese noch glauben, mit ihrer Kunst und ihrem politischen Engagement revolutionär die Welt verändern zu können. Nach der Okkupation von Paris und nachdem sich die reaktionäre Marionettenregierung unter Marschall Pétain mit den Nazis auf Koexistenz und Kollaboration geeinigt hat, geht er zurück in seine provenzalische Heimat und führt als „Capitain Alexandre“ eine Widerstandsgruppe. In diesen Jahren entsagt er der Dichtung, dennoch entstehen Notizen, Aphorismen und Prosagedichte, müssen Gedanken und Erlebnisse — innere wie äußere — festgehalten werden. Diese „Aufzeichnungen aus dem Maquis“ werden von seinem Freund Albert Camus 1946 unter dem Titel Hypnos herausgegeben; in Paul Celans Ubertragung ins Deutsche erscheinen sie erstmals 1959. Der Sprache von Char - sie ist am Surrealismus und an der écriture automatique geschult — wohnt ein existentieller Ernst sowie eine Entschlossenheit und Erfahrung inne, die jeder Sondierung standhält. Die in ihr entwickelten Gedanken und Bilder sind zutiefst empfunden und resultieren nicht zuletzt aus der Verantwortung und Todesbereitschaft, die seine Widerstandstatigkeit gegen die deutschen Besatzer unweigerlich mit sich gebracht hat. Jahre nach dem Erscheinen von Hypnos stellt Char selber ein Buch zusammen, das 1971 bei Gallimard unter dem Titel „Recherche de la base et du sommet“ erscheint. Viele der Aufzeichnungen, Briefe, Klappentexte, Hommagen und Gedichte schließen in ihrer Thematik und ihrer Form direkt an diese prägenden Jahre im Untergrund an. Für das 1. Kapitel - vom Umfang etwa ein Drittel des Buches — wählt er den Titel Armut erhobenen Hauptesgegen die Naziseinschritten, die Einzigen, die nicht kuschten. Wir hatten die besten Motive. Und natiirlich — man lief sich leicht verführen. Aber verstehe doch bitte: Es gab keine Alternative. Wir waren die generation perdue ...“ Spataber doch kehrte eine Auswahl ihrer Fotos, vor allem auch jene, mit denen sie in den frühen 30er Jahren das Elend in Wien, aber auch den Maiaufmarsch im Jahre 1931 dokumentierte, in ihre Geburtsstadt zurück. Die Schau, die auch schon in Edinburgh gezeigt wurde und vom damaligen Kustos der National Galleries of Scotland und heutigen Leiter des Fotomuseums Winterthur kuratiert wurde, trug den Titel /m Schatten der Diktaturen. Als Ediths Bruder Wolf Suschitzky, der eben seinen hundertundersten Geburtstag gefeiert hatte, am Abend des 25. September 2013 anlässlich der Eröffnung der Schau das Rednerpultim Wien Museum betrat, hätte man eine Stecknadel fallen hören: „Wie traurig, dass Edith das nichtmehr erleben konnte. Aber was heute hier geschieht, ist so etwas wie ein Homecoming für meine Schwester.“ Er beendete seine kurze Rede mit den Worten: „Sie war es, die mich zur Fotografie iiberredete, mehr noch ... verfiihrte. Und siewar es, die mich und unsere Mutter gerettet hat, indem sie uns nach England brachte ...“ Richard Wall Peter Stephan Jungk: Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart. Geschichten eines Lebens. Frankfurt: S. Fischer 2015. 319 S. €22,90 Mai 2016 91