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für Hochverrat gewertet wurde, dass aber alle Anklagen wegen Mordes oder Mordversuchs im Zusammenhang mit dem Juliputsch mit Freisprüchen endeten. Die Historiker Friedrich Brodtrager und Manfred Bauer beschäftigen sich mit der Rolle der steirischen Nationalsozialisten als Katalysator in jenem Eskalationsprozess, der zwischen dem Berchtesgadener Abkommen und dem „Anschluss“ zur NS-Machtergreifung führte. Dabei vermessen die beiden Autoren auch eingehend das Spannungsfeld, das in der illegalen Partei zwischen den beiden Polen „Umsturz“ und „evolutionärer“ Machtergreifung durch Unterwanderung des Staates gegeben war, zu ständigen Fraktionierungen und Reibereien führte und das obendrein von der jeweiligen Taktik der deutschen Staats- und Parteiführung und der österreichischen Regierung beeinflusst war. Im Februar 1938 witterten die steirischen Nazis die Gunst der Stunde, um sich zu erheben und im neuen halblegalen Raum eine Dynamik zu entfalten, deren Wucht alle Dämme brechen ließ. Durch permanente öffentliche Manifestationen, eine Politik der Symbole (massenhafte Zurschaustellung von NS-Emblemen, Verwendung des Hitlergrußes) und die Eroberung der Straße wurde eine politische Hegemonie demonstriert, deren Folgen nachhaltig und für Österreichs Unabhängigkeit letal waren. Da diese Bilder um die Welt gingen, erzeugten sie außerhalb des Landes den Eindruck, dass die überwältigende Mehrheit der Österreicher ohnedies hinter den Nazis stünde und den „Anschluss“ wünsche: Wozu also über diplomatische Demarchen hinausgehend protestieren oder gar einen internationalen Konflikt riskieren? Die Nationalsozialisten „dankten“ es der Steiermark, indem Graz zur „Stadt der Volkserhebung“ avancierte. Durch diesen Sammelband wird die historische Forschung vor allem dadurch bereichert, dass mit der breiten Auswertung von originären NS-Quellen (u.a. aus Beständen des Bundesarchivs Berlin) vielfach Neuland erschlossen wurde, während die Quellenbasis bisheriger Arbeiten (gestützt auf Verwaltungsund Justizakten) oft auf die Außensicht auf die NSDAP beschränkt blieb. Letzteres führte zu Zwei Kenner als Herausgeber und zehn weitere ausgewiesene Fachleute legen detaillierte Untersuchungen zu jener Zeit vor, die noch immer nicht vergangen ist. Solide historische Untersuchungen dazu begannen erst spät. Mussten erst die letzten Zeitzeugen — ob Täter, ob Opfer — gestorben sein? Die Herausgeber bemerken in der Einleitung, dass die Forschung in Österreich die Opferrolle des Landes lange in den Mittelpunkt rückte: „Das Übel des Nationalsozialismus kam von außen, die Befehle kamen von oben, und wir waren die Opfer.“ Dies ist ein Zitat aus der Rede von Bundespräsident Heinz Fischer im April 2015, anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der Zweiten Republik. Die Wahrheit ist jedoch, so Fischer weiter, dass es hier Gegner und Opfer des NS-Systems gab, „doch ein deprimierend großer Teil waren Sympathisanten, Unterstützer und auch rücksichtslose Täter“. Dieser Sammelband bestätigt es. CLIO, der Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit, organisierte zusammen mit der „7. fakultät“ der Universität Graz im Mai 2015 eine wissenschaftliche Tagung zu dem Thema. Die Beiträge des Buches stammen zum Teil aus dieser Veranstaltung. Sie sind gründlich fundiert und werden durch authentisches Anschauungsmaterial ergänzt: Da gibt es das Foto vom Fallbeil im Hinrichtungsraum des Landesgerichts Graz oder das Foto von Josef Ackerl und seiner Bauernfamilie aus Gschmaier bei Ilz; der Volkssturmmann Ackerl widersetzte sich der Anordnung, jüdische Flüchtlinge zu erschießen, und rettete einigen von ihnen das Leben. Wolfram Dornik widmet sich dem „militärischen Kriegsende und der Dominanz des Opferdiskurses in der Steiermark“: „So war es 1945?“ Trotz der nur knapp vier Monate dauernden Besatzung durch die Rote Armee ist diese Phase im kollektiven Gedächtnis der Steirer besonders präsent — bis heute. Aus vielen Quellen und Recherchen werden die Kämpfe der Roten Armee in der Oststeiermark sowie das Vordringen der Westalliierten am 8./9. Mai 1945 geschildert. In Köflach trafen die sowjetischen Truppen am 9. Mai mit britischen Geheimdienstleuten zusammen. Am selben Tag begegneten die US-amerikanischen Einheiten den sowjetischen Militärs in Liezen. Noch am 8. Mai hatte ein SS-Mann in Feldbach den Turm der Kirche gesprengt, als Vergeltung, weil der Pfarrer Josef Lückl sich in der NS-Zeit kritisch zum Regime geäußert hatte. — Plünderungen, Vergewaltigungen, Übergriffe der Besatzer gab es; die Erinnerung an die Zeit sei „zweischneidig“ - schwankend zwischen der Befreiung von NS-Terrorherrschaft und dem Leid des Kriegsendes und der frühen Besatzungszeit. Es wird auf die Darstellung der Periode im Museum im Tabor in Feldbach verwiesen. Stichwort ist die „Änderung der Erinnerungspraxis“ durch historische Aufarbeitung. Dieses Konzept prägt die vier Abschnitte der ganzen verdienstvollen Publikation. Terror in der Endphase des NS-Regimes beginnt mit dem traurigsten Kapitel, den Todesmärschen ungarischer Jüdinnen und Juden im April 1945. Diese Verbrechen waren bis zum Jahr 1989 fast vergessen, so Eleonore Lappin-Eppel. Sie schildert Hintergründe, so die Befehle der NS-Führung und die „Säuberungsaktionen“ und Exzesse der Mörder mit tausenden Todesopfern. Die Verbrechen waren „zwar Resultat der Forschungs- und Wahrnehmungsdefiziten, die umso größer werden, je mehr man sich dem regionalen und lokalen Bereich nähert. Am offensichtlichsten erscheinen diese blinden Flecken in der traditionellen Ortsgeschichtsschreibung. Auch dort, wo der Nationalsozialismus nicht ausgespart bleibt, wird dieser oft als fremdes Phänomen beschrieben, das die Gemeinde „heimgesucht“ hatte. Als logische Konsequenz dieses Mankos werden auch die Täter meistens anderswo vermutet. Das Fazit aller verdienstvollen Arbeiten des Sammelbandes Von NS-Verbot zum „Anschluss“. Steirische Nationalsozialisten 1933-1938: In keinem anderen österreichischen Bundesland war die illegale nationalsozialistische Bewegung so tief verankert wie in der Steiermark. Heimo Gruber Hans Schafranek, Herbert Blatnik (Hg.): Vom NS-Verbot zum „Anschluss“. Steirische Nationalsozialisten 1933-1938. Wien: Czernin 2015. 558 S. €29,90 Verhetzung der Bevölkerung durch die NS-Elite, dennoch trug jedes einzelne Mitglied der Wachmannschaften die Verantwortung ... Gerade das macht jedoch die Gewaltexzesse auf den steirischen Straßen im April 1945 so verstörend.“ Georg Hoffmann schildert „“Volksjustiz‘— Gewalt als Herrschaftsinstrument im Bombenkrieg am Beispiel der Steiermark (1944/45)“, das, was „Fliegerlynchjustiz“ oder „Amerikanerjagd“ genannt wurde. Mit der Zunahme der Bombardements ab 1944 erkannte die Bevölkerung, dass „der Feind“ überlegen war, und dass „die Heimat“ nun Kriegsschauplatz war. Im ganzen deutschen Reich galt der Befehl, abgestürzte und überlebende Fliegermannschaften abzuknallen. Der Autor zählt etwa 100 Ermordete aus steirischen Gegenden. Tröstlich, dass es zwei Fälle von geretteten Amerikanern gab, weil dem Befehl nicht Folge geleistet wurde. „Die vorgenannten Elemente sind durch Erschießen unschädlich zu machen.“ Heimo Halbrainers Beitrag „NS-Verbrechen anlässlich der Räumung der Haftanstalten und Konzentrationslager“ zeigt, wie weit verzweigt das Netz der KZs war; ihre Insassen, aber auch die der Haftanstalten sowie nicht inhaftierte Zwangsarbeiter wurden in den letzten Kriegswochen nicht nur von Gestapo und SS, sondern auch von fanatischen Zivilisten wahllos erschossen. Die Streuung der Verbrechen zeugt von dem maßlos gesteigerten Hass, der sich gegen Kriegsende „im Volk“ verbreitet hatte. Beispiele von Urteilen der NS-Militärjustiz — Gefängnis, Exekutionen — bringt Mathias Lichtenwagner: „Die ‚Endphase-Verbrechen‘ verschoben das, was zuvor im entfernten Östen, Westen, Süden und Norden praktiziert wurde, Mai 2016 95