OCR
Renate Göllner Identität ist ein Polizeibegriff. Georges-Arthur Goldschmidt, Schwarzfahrer des Lebens Im Frühjahr 1938 wurde ein eljähriger Knabe gemeinsam mit seinem Bruder am Hamburger Hauptbahnhof in einen Zug gesetzt und nach Florenz gebracht. Noch weiß der Knabe nicht so genau, warum er ohne Eltern nach Italien fahren muss, wenngleich er auch ahnt, dass mit ihm etwas „nicht stimmt“. Seine jüdische Herkunft war ihm insofern rätselhaft, als das Judentum in der protestantischen, großbürgerlichen Familie überhaupt keine Rolle spielte. „Ich habe von meiner jüdischen Abstammung niemals etwas gewusst und verstand nicht, warum ich plötzlich ein Krimineller war und zum Tode verurteilt worden war.“' Die Erfahrung des Knaben, fortgeschickt und verlassen zu werden, hat lebenslange Spuren in seinem Gedächtnis hinterlassen, sie steht am Beginn einer von Entsetzen und Bedrängnis geprägten Kindheit und Jugend. Kindheit und Jugend sind denn auch wiederkehrende Themen in Georges-Arthur Goldschmidts Texten, mit so bezeichnenden Titeln wie Absonderung (1991), Die Aussetzung (1996) oder Die Befreiung (2007), in welchen er in immer neuen Anläufen, einmal mehr in fiktiver, ein anderes Mal cher in autobiographischer Form festhält, was ihm zwischen seinem zehnten und achtzehnten Lebensjahr wiederfuhr. Es gehe ihm nicht um bloße Erinnerung, betont er, „sondern um etwas, das man am liebsten wegschaffen möchte, das hat man in sich, weil man es mit den Hitlerverbrechern zu tun hatte“.? Mit diesem „Wegschaffen“ begann Goldschmidt erst relativ spät, über vierzig Jahre sollte es dauern, bis er überhaupt darüber schreiben wollte und konnte. Zugleich entstehen seine luziden Arbeiten über Kafka und über Freud und die Sprache; Goldschmidt nimmt aber auch entschieden Stellung in der französischen Heidegger-Debatte.° Als auch in Italien die Situation für Juden ständig bedrohlicher wurde, brachte eine Verwandte der Eltern, Noémie de Rothschild, die beiden Brüder in ein katholisches Kinderheim in den französischen Alpen der Haute-Savoie, wo Goldschmidt nur dank des Mutes und der Unerschrockenheit einiger weniger den deutschen Besatzern entkam. Zu ihnen zählte Marie-Jose Lucas, eine Gaullistin der ersten Stunde, „die den französischen Oppositionsgeist“ verkörperte und „für gewisse Internatsschüler ihr Leben riskierte, die ihr eigentlich nichts bedeuteten“.* Diese Zivilcourage war mit einem ausgeprägten Sadismus gepaart, den sie im Zuge ihrer Erziehungsmethoden hemmungslos auslebte. Auf den nackten Hintern, mit Birkenzweigen, die Goldschmidt zuvor in einem kleinen Wald selbst brechen musste, gingen die Hiebe nieder. Minutiös beschreibt er diese Züchtigungen, exakt geplante Rituale, die immer wieder an ihm vollzogen wurden. Hinzu kamen die ganz alltäglichen Schläge mit dem Eisenlineal auf die Fingerkuppen, die Schläge aufden Kopf und der Essensentzug. Gequält wurde er ebenso von seinen Mitschülern, man knotete ihm das Bettlacken zusammen, er musste ihre schlammverschmierten 8 _ ZWISCHENWELT Schuhe putzen, die schweren Essensteller abservieren, kurzum er war ihr Diener und hatte ihren Befehlen zu gehorchen. Ab dem Jahr 1943, als die Deutschen in den Süden vorrücken, ist Goldschmidts Leben akut bedroht. Als Jude befindet er sich in ständiger Gefahr, abgeholt und verschleppt zu werden. „Ich war schuld an meiner Unschuld, an diesem Tatbestand einer Schuld ohne Schuldhaftigkeit.“® Doch hatte jene Pein in dem katholischen Kinderheim eine unvermutete Kehrseite, die zu beschreiben, ohne sie zu verharmlosen, schon der größten literarischen Anstrengung bedarf. Die folgenden Sätze können diesen Anspruch nicht erheben, wollen nur auf Goldschmidts eigene Darstellung verweisen: Schmerz und Furcht „halfen“ dem Kind, unmittelbar das Heimweh und die Sehnsucht nach der geliebten Mutter zu vergessen, von deren Tod er während der Internatszeit durch einen Brief des Vaters erfahren hatte. Die Schläge mit der Rute nahmen seine Gedanken auf eine Weise gefangen, dass sie das Bewusstsein beherrschten und Trauer erst gar nicht aufkommen ließen. Die Prügel hemmten zwar seine Konzentration und Lernfähigkeit, das Kind wird zu einem „verstockten“, von Zornanfällen heimgesuchten Jungen, Bettnässer überdies. Doch zugleich boten die Züchtigungen eine Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erheischen, wurden zum Ersatz für die so sehr entbehrte Liebe, eröffneten es dem Kind, die Verzweiflung zu bekämpfen. Durch die Schläge auf den nackten Körper erfuhr er die Verzückung erster erotischer Sensationen, die Umkehr des Schmerzes und der Scham in Wollust. „Die physische Lust ... ist die Wahrheit des Leibes, die einzige Wahrheit, die wahrnehmbar sein und mit sich selbst zusammenfallen kann.“ Nicht nur Roussceaus Bekenntnisse, deren triumphale Selbstentdeckung eine Offenbarung für ihn sind, bestätigten ihm, dass Gewalt und Ungerechtigkeit in Wollust umschlagen können; auch Freud, der für Goldschmidt später so bedeutsam werden sollte, hat dieses Phänomen in seiner Schrift Ein Kind wird geschlagen beschrieben, als er die ursprünglichen infantilen Wünsche und Phantasien, die mit Strafe einhergehen können, offenlegte. Selten ist so schonungslos offen ausgesprochen und beschrieben worden, wie Individuation aus einer Mischung von Erniedtrigung, Ohnmacht und Züchtigung sich entwickelt, die zugleich unmittelbar mit sexueller Lust verbunden ist. Ichwerdung und Selbstfindung vollzichen sich buchstäblich am eigenen Leib. „Der Taumel, in dem ihn jenes Abenteuer des Körpers versetzt, beweist ihm durch die Hand des anderen seine Gegenwart und die eigene unersetzbare Einmaligkeit.“” Hierzu zählt auch die Erfahrung der homosexuellen Liebe, die im Internat fast unvermeidlich war. Sie hat mir, sagt Goldschmidt, „die Schönheit des Lebens damals bewahrt ... und Schutz vor dem Heimweh und Gleichgewicht gebracht“®. In Die Befreiung beschreibt er die sexuelle Begegnung mit einem Aufscher als eine Art Initiation: „Lange nach dem Lichterlöschen in den Schlafsälen war dann der Aufseher zu ihm in den Karzer gekommen und hatte sich von ihm beehren lassen, und am zweiten und dritten Tag hatte der Jüngling empfangen,