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erfahren, wie es sich in sich anfühlt, er hatte ihn und also sich selbst in sich gehabt und war auf einmal verwandelt gewesen ... Der Jüngling hatte Zeit gehabt, mit sich selber Bekanntschaft zu schließen; noch nie hatte er jede Faser seines Körpers derart empfunden ... aber vor allem die Erleuchtung, der triumphale Frieden, der in ihm aufging, als habe er den Sinn der Schöpfung erfaßt, als fühle er die Weltheit in sich. ... Er empfand keine Scham, denn er hatte niemandem geschadet, niemandem etwas angetan. Er war ein Wissender geworden.“” Nicht allein die rückhaltlose Enthüllung, sondern auch die gleichsam natürlich anmutende Verkehrung von Ohnmacht und Scham in Befreiung erstaunt. Ganz anders, nahezu konträr, stellt Robert Musil in seinem Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß Selbstfindung und sexuelles Begehren dar. 1906 erschienen, handelt diese Schrift ebenfalls von den seelischen „Verwirrungen“ pubertierender Knaben und markiert darin einen Bruch mit der Tradition deutschsprachiger Literatur. Erstmals werden hier die autoritären Strukturen im sexuellen Verhalten selbst bloßgelegt, wie sie sich durch die Beziehungen junger Männer im staatserhaltenden Kollektiv ausprägen. Während bei Goldschmidt aus der Sicht des Gezüchtigten berichtet wird, erzählt Musil aus der Perspektive des Voyeurs und Komplizen der Peiniger. Der Schriftsteller, der in dem Roman mit den militärischen Zuchtmethoden in einer Kadettenanstalt der Habsburgermonarchie abrechnet, berichtet von einer Gruppe Jugendlicher, die ihren Mitschüler Basini wegen eines Diebstahls erpressen, indem sie ihn physisch und psychisch misshandeln und sich an ihm vergehen. Törleß, der Protagonist der Handlung, der sich an den Martern zwar nicht unmittelbar beteiligt, sie aber auch nicht verhindert, empfindet selbst im Nachhinein nur äußerste Verachtung für das Opfer, dessen körperlicher Anziehung auch er erlegen war: „Er mied untertags Basini. Konnte er es nicht vermeiden, so packte ihn fast immer eine Ernüchterung. Jede Bewegung Basinis erfüllte ihn mit Ekel, die ungewissen Schatten seiner Illusionen machten einer kalten, stumpfen Helle Platz, seine Seele schien zusammenzuschrumpfen, bis nichts mehr übrig blieb, als die Erinnerung an ein frühes Begehren, das ihm unsagbar und verständig und widerwärtig vorkam. Er stieß seinen Fuß gegen die Erde und krümmte seinen Leib zusammen, nur um sich dieser schmerzhaften Scham zu entwinden.“!® Abscheu und Scham vor seinem eigenen homosexuellen Verlangen werden deutlich: Basinis schmale helle Schultern, sein „liebliches Lächeln“ und sein weibliches Gebaren wecken in Törleß die Erinnerung an frühkindliches Begehren, die als Gefahr wahrgenommen und mit aller Kraft abgewehrt werden muss. In der Gemeinschaft einer Habsburger Kadettenanstalt mit ihrem militärischen Drill und dem Zwang zur Normalität konnte sich homosexuelle Begierde nur im Kontext von Aggression und Gewalt entwickeln und als pures Herrschaftsinstrument profilieren. Törleß agierte in der Rolle eines Komplizen, als Teil eines Kollektivs. Statt auszubrechen, seine Mitschüler daran zu hindern, weiterhin Basini zu foltern, indem er sie unverzüglich der Schulleitung anzeigte, entscheidet er sich dafür, in der Gruppe zu verharren und wählt die Sicherheit. Ganz anders die Situation des jüdischen Jungen bei Goldschmidt, der sich durch sein unangepasstes, rebellisches Verhalten gleichsam aus jeder möglichen Gemeinschaft herauskatapultiert hatte. Während im Falle Törleß’ die Identifikation mit dem Kollektiv die Individuation gefährdete, gelang es Goldschmidt durch seine homosexuelle Erfahrung, sich in seiner Einmaligkeit zu entdecken - ein Prozess, der ihn schlagartig von intellektuellen Hemmnissen und Blockaden befreite. Seiner Entwicklung scheinen fortan keine inneren Grenzen gesetzt. Jean Améry hat in einem fiktiven Gespräch über Leben und Ende des Herbert Törless die weitere Entwicklung Törleß’ in Gedanken fortgesponnen. Törleß habe sich schon als Knabe konstituiert, heißt es da, „er nahm die Rolle eines Zerstörers der bürgerlichen Ordnung auf sich“. Der erste Schritt, so die Deutung Amerys, war sein Antisemitismus, mit welchem er bereits sein sexuelles Begehren zu rechtfertigen suchte und jegliche Verantwortung von sich schob: Es scheint, so Amery, dass Törleß Basini „gewissermaßen zum paradigmatischen ... metaphysischen Juden gemacht“ hat, indem er erklärte, Basini hätte ihn verführt, „wie Mephisto den Faust, wie der Jude den Deutschen“.'? Seine „schreckliche Indifferenz“ machte ihn anfällig für den nazistischen Wahn, sein Weg zum Mitläufer war gleichsam vorgezeichnet. Goldschmidt war seiner Deportation nur dank der Hilfe eines französischen Bergbauern und eines Priesters, die ihn beide unter Lebensgefahr vor den Deutschen versteckt hatten, entkommen. Danach lebte er vorübergehend in einem jüdischen Waisenhaus in Pontoise und übersiedelte schließlich nach Paris, wo er bis heute wohnt. Nachträglich hat er den Bruch beschrieben, der sein Leben spaltete: Die Nationalsozialisten hatten ihn nicht nur als Kind in die Flucht gejagt und von seinen Eltern, die er nie wiedersehen sollte, getrennt, auch sein Verhältnis zur deutschen Sprache war tief gestört; durch sie war entschieden worden, dass es ihn nicht geben durfte, dass er abgeschafft werden sollte: „In meiner Sprache wurde das absolute Verbrechen geplant, jeden Tag wurden die Namen neuer Vorschriften bekannt, die mir alle geläufig waren. Diese Begriffe hatten das Deutsche durchsetzt, sie waren überall und hatten sich in der deutschen Sprache ausgebreitet. Wie konnte ich es jetzt noch gebrauchen, cs sprechen wie jeder andere? ... Man hatte mich nicht nur aus meiner Sprache verstoßen, sondern sie wahrscheinlich auch für immer vergiftet.“ Als Goldschmidt mit elf Jahren ins Internat kam, hatte er Französisch nicht wirklich gelernt, er sei, so schreibt er, in diese Sprache „einfach hineingefallen“'. Das Deutsche war in der Schule verpönt und man ließ es ihn groteskerweise spüren, dass die Besatzer seine „Volksgenossen“ wären. Er konnte niemandem erklären, dass er in deren Augen ein Geächteter, „unwertes Leben“ war, das vernichtet gehöre. Ohnmacht im Umgang mit Sprache — „Furcht und Unfähigkeit sich Gehör zu verschaffen“ — erfuhr er auch, sobald ihm irgendein Missgeschick zustieß, egal ob er die Wahrheit sagte oder log, was er auch tat, man glaubte ihm nicht und er wurde zur Strafe verurteilt. „Strafe, und das ist ihre Daseinsberechtigung, wird immer von Scham begleitet. Scham trennt und isoliert und führt den, der sich schämt, auf die konstitutive Leere zurück, die er ist ... Es ist die Scham des Verurteilten, der am Pranger steht, die des vor aller Augen bestraften Kindes, eine emblematisch hochgehaltene Scham.“! Seinen Gefühlen und der Scham ausgeliefert, bleibt ihm einzig das Verstummen. Diese Passagen gehören zu den eindrücklichsten und präzisesten, die je über Kindheit und Jugend unter den Bedingungen deutscher Besatzung geschrieben wurden. Ein jüdischer Waisenknabe, versteckt vor den Nationalsozialisten, der Gewalt seiner katholischen Oktober 2016 9