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Erzieher preisgegeben, der Sprache seiner Kindheit beraubt, fühlt sich überflüssig, ja schuldig, überhaupt am Leben zu sein. In dieser Situation blieb einzig die Flucht in die französische Literatur, um der Verzweiflung und Schmach des Alltags, dem Schrecken der Wirklichkeit zu entfliehen. Wahllos verschlang er die Bücher von Rousseau, Descartes, Pascal, La Rochefoucauld, La Bruyére, Rimbaud, Verlaine, Artaud, Moliére, Flaubert und vielen anderen. Zunächst aber war er wie gebannt von jener Lektüre, in welcher die Protagonisten ähnliche Erfahrungen machten und ähnlich empfanden wie er; was er dringend suchte, waren Schicksalsgenossen, die sein Leben in irgendeiner Weise zu legitimieren halfen. Später, als Goldschmidt wieder Zugang zu deutscher Literatur hatte, wird nicht zufällig Karl Philipp Moritz, der 1785 den heute leider vergessenen autobiographischen Roman Anton Reiser veröffentlicht hatte, für ihn zu einem der wichtigsten Schriftsteller. Als Dreißigjähriger hatte Moritz darin von einem verwahrlosten und verlassenen, der Armut preisgegebenen Kind berichtet, von dessen fortlaufenden, immer wieder scheiternden Versuchen, seiner Scham, dem Gefühl der eigenen Unwürdigkeit zu entkommen. Anton ist ein Knabe, der in zwei Welten lebt, der immer wieder phantastische Pläne schmiedet, um den engen, bedrückenden Verhältnissen zu entrinnen, dann aber umso härter mit der Wirklichkeit der ständischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts konfrontiert wird und daran zu zerbrechen droht. Moritz bringt dessen seelische Verletzungen nicht nur mit größter Offenheit zur Sprache, er reflektiert sie auch, und nimmt sich zugleich das Recht heraus, als Individuum mit all seinen Beschädigungen Anerkennung zu fordern. Ein „lebenswichtiges“ Buch sei es, schreibt Goldschmidt, das niemand lesen solle, der nicht schon einmal vor Scham gestorben ist, wie auch nicht der, der nicht zum Äußersten bereit sei. „Es ist fast wie eine leibliche Begegnung, als hätte ich das innerliche körperliche Befinden Antons empfunden ... Für mich geht es so weit, mich zu fragen, ob ich nicht selber Anton Reiser bin, er ist genau derselbe, diese Mischung von Selbstinszenierung, Größenwahn und Selbstmitleid, von Hingabe und Hochmut, von Arroganz und Selbstverneinung, von Eitelkeit und Anbiederung, von Exaltation und Niedergeschlagenheit.“'° IV Doch es brauchte Zeit, die Sprache seiner Kindheit wieder zu entdecken. Kein unmittelbarer Zugang war mehr möglich. Der Weg durchs Französische hindurch war jeweils nötig, um etwas Ähnliches wie die Begeisterung mit Rousseau und Descartes auch in deutscher Sprache zu erleben. Erst als ihm Kafka in die Hände fiel, war er sich des Deutschen plötzlich wieder sicher: „Da las ich in einem ständigen Zustand der Exaltation all seine Schriften und ein großer Friede kam in mir auf, ich hatte meine Muttersprache wiedergefunden, menschlich, präzise, offen und ergreifend, von ironischer Strenge, endlich befreit von ihrer wagnerischen Schwerfälligkeit.“'’ Goldschmidt hatte nach seinem Abitur ein Deutschstudium an der Sorbonne absolviert und danach bis 1992 an einem Gymnasium unterrichtet. Anfang der 1970er Jahre begann er Werke von Goethe, Handke, Nietzsche und auch Kafka ins Französische zu übersetzen und schrieb schließlich mit fast achtzig Jahren das Buch über Kafka: Meistens wohnt der den man sucht nebenan. Kafka lesen, eine Schrift, die so manchen Germanisten vor den Kopf stoßen mag, gründet sie doch auf Goldschmidts eigenen traumatischen 10 ZWISCHENWELT Erfahrungen als Internatszögling. Es ist offenkundig, dass Kafka ihn deshalb so fasziniert, weil dieser Schriftsteller wie kein anderer Schuld, Strafe und Scham ins Zentrum seiner Romane rückt. Mitunter erscheint es, als würde Goldschmidt mit Kafkas Figuren sich vollständig identifizieren und seine Kindheit auf sie projizieren. So kommt er mehrmals unvermittelt auf das unschuldig gestrafte Kind zu sprechen, obwohl Kafkas Hauptfiguren Erwachsene sind: „Dem Angeklagten geht es wie dem Kind, das nicht für ein Vergehen verurteilt wird, das es gar nicht begangen hat, sondern für die Schuld, die es ist. In den Internaten gab es immer Auserwählte, die zum Strafen da waren ‚Für die Peitsche geboren‘, hieß das üblicherweise. “'® Gerade durch diese auf den ersten Blick unreflektierte Projektion erschließt Goldschmidts Lektüre mit unerhörter Genauigkeit jene Vorgänge in den Figuren Kafkas, auf die dieser Schriftsteller selbst, gerade indem er von ihnen abstrahierte, hindeuten konnte. Wenn im Procef von der „Schönheit“ der Angeklagten die Rede ist und es von ihnen heißt, sie seien, zumindest von jenen, „die darin Erfahrung haben“, als solche zu erkennen, vermag Goldschmidt auszuführen, dass die „Präsenz der Anklage“ das Empfinden intensiviert, das man „von sich selber hat“, und Waisen und Internatszöglinge, wenn sie auf Spaziergängen Kindern anderer Anstalten begegneten, aufeinen Blick erkennen konnten, welche von ihnen bestraft wurden und welche es noch werden würden.'? Es ist gewiss kein Zufall, dass Goldschmidt dem Kapitel „Der Prügler“ in Kafkas Proceß besondere Aufmerksamkeit widmet, einer, wie er schreibt, „buchstäblich erschreckenden Szene“, in der Josef K. abends, als er seinen Arbeitsplatz in der Bank bereits verlassen will, durch Seufzer aufgeschreckt, die Tür zu einer Rumpelkammer öffnet und zwei Menschen entdeckt, die von einem braungebrannten Mann in dunkler Lederbekleidung, der wie ein Matrose aussah, geprügelt werden sollen. Er erkennt in den zu Bestrafenden jene beiden Herren, Wilhelm und Franz, die ihn als Wächter in seiner Wohnung aufgesucht hatten, um ihn von seinem kommenden Prozess zu benachrichtigen und einige Zeit zu bewachen, aber auch seine Wäsche mitnahmen und sein Frühstück aufaßen. Da K. sich über ihr Verhalten bei der Behörde, die den Prozess gegen ihn führt, beschwert hatte, werden sie nun, wie er erfährt, dafür bestraft. So sehr K. sich auch bemühte, den Prügler zu besänftigen, ihn gar zu bestechen versucht, um damit Wilhelm und Franz zu schonen, die Rute geht schließlich doch auf die beiden nackten, schreienden Männer unerbittlich nieder. Als sich, durch den Lärm aufmerksam geworden, zwei Diener nähern, schlägt K. die Tür der Rumpelkammer zu. Auf ihre Frage, ob erwas geschehen sei, antwortete er nur, „Nein, nein ... es schreit nur ein Hund in dem Hof“”. Am nächsten Tag kommt ihm während der Arbeit die Szene nicht aus dem Sinn und so schaut er aufdem Nachhauseweg wieder in die Rumpelkammer. Es ist alles wie am Vortag: Der Prügler mit der Rute in der Hand und die nackten, jammernden Wächter. Sofort stößt er die Tür wieder zu. Bevor er aber die Bank verlässt, ruft er noch den Dienern zu: „Räumt doch endlich die Rumpelkammer auf ... Wir versinken ja im Schmutz!“ Es gibt bestimmte Momente gerade auch dieser an sich unheimlichen Szene, in denen die Komik deutlich hervortritt, die von Kafkas Erzählform gar nicht zu trennen ist. So etwa wenn einer der Wächter hofft, einst selber zum Prügler „aufsteigen“ zu können, worüber nun der Prügler spotten kann, indem er auf die Fettleibigkeit des Wächters verweist, die daher rühre, dass er immer das Frühstück der Angeklagten aufesse; oder das abrupte Ende