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ein produktiv-subversiver Künstler — ob ihn sein schweres Leben dazu gemacht hat, dass er nicht „repräsentativ“ sein wollte, sondern Experimentator? Ein Poet der Erforschung der Welt in dem Sinne von Paul Klee, der sagte: Kunst macht sichtbar. In dem Sinne verehrte ich ihn, da er imstande war, den Einsturz eines Gebäudes dazu zu nutzen, eine neue Baustelle zu errichten: Die „Werdelust“ des Stoffes traf sich bei ihm mit der „Produktionslust“ der Hand, die zum Zeichenstift oder zum Stichel für die Radierung greift. — Es gab bei ihm kein Ressentiment, er hatte die Gabe, seiner Privatheit seine Kunst voranzustellen. Die Farb- Lithographie, die er 1983 für das Bauhaus-Archiv zur Verfügung stellte, heißt „Hommage & Avicenne“, für den großen Avicenna-Ibn Sina, arabischen Universalgelehrten (980 — 1037): Sie zeigt eine verfremdet gestaltete Weltkugel und davor einige menschliche Wesen, es sieht aus, als wollten sie diesen merkwürdigen Globus von der Ferne erkunden. Die Inschrift rechts unten lautet „La Forme est la Verit€ Ardente de la Matiere, Avicenne“. Form als feurige — brennende — Wahrheit des Stoffes, anders als bei Aristoteles, der Form und Stoff unterschied als Méglichkeit und Wirklichkeit und mit dieser Trennung bis in die christliche Scholastik hinein im Sinne dualistischer Spaltung wirksam war. Ernst Bloch (,,Avicenna und die Aristotelische Linke“) zeigt, wie nach der Interpretation des Avicenna die Materie, der Stoff, nicht mehr als nur passiv gesehen wird, sondern dass die Formen aus dem Stoff hervorgehen, und sozusagen dessen „Daseinsform“ sind. Flocon war „Europäer“, im kritischen Sinn. Nur weil man in Paris lebt, ist man noch kein Pariser, schrieb er über den Beginn seines Exils. Er war an Prozessen, am Werden, interessiert: „Mein Leben lang habe ich eher Luftschlösser gebaut, denn diese erdrücken Niemanden...“ (Zitat aus „Suites Experimentales“) Es gab andere Bauhäusler, die Paris als Übergangsort nutzten, etwa der mit Flocon befreundete Walter Allner, der weiter nach New York emigrierte und dort als Designer und Mitarbeiter der Zeitschrift „Fortune“ schr erfolgreich wurde. Auch er besuchte gerne das Berliner Bauhaus-Archiv. Er war sehr „amerikanisch“. Flocon war französisch-formell; er und ich, wir sagten Sie zueinander, aber immerhin nannte er mich beim Vornamen mit französischer Aussprache, Edvige mit einem siimmhaften sch am Schluss. Sie kamen gerne zu festlichen Anlässen nach Berlin der siebziger Jahre, Flocon, Allner, der mich einmal zu einem Empfang in der US-Militärmission in Dahlem mitnahm, wo er mir erklärte, was „Rollrasen“ ist — ich kannte diesen grünen Wunderteppich damals noch nicht. Viele kamen von fern zur Grundsteinlegung des Bauhaus-Archiv-Gebäudes 1976, eines der letzten Entwürfe des Bauhaus-Gründers Walter Gropius (1883 — 1969, auch Exilant, über England in die USA). Sie kamen zur Einweihung und schimpften über den Bau, der so gar nichts vom GropiusBauhaus-Gebäude in Dessau, ihrer alten Schule zwischen 1926 und 1932, hatte. Manchmal war es für Außenstehende wie bei einem Klassentreffen, wenn die älteren Herrschaften zusammenkamen, die einen, die nach 1933 geblieben waren, die anderen, die vertrieben worden waren — nicht ohne Spannungen fanden diese Begegnungen statt. Aus Frankreich kam zu uns zu privatem Besuch nach Berlin das Ehepaar Leppien, beide waren Bauhausschüler. Er hieß eigendlich Kurt Leppien und nannte sich in Frankreich Jean; kurze Zeit-in der Fremdenlegion — änderte er seinen Nachnamen in L£pine. Seine Frau Suzanne Markos-Ney war „halbjüdisch“ und, wie es hieß, „Überlebende von Auschwitz“. Er war „nur links“, also politisch verfolgt. Sie hatte die Deportation überstanden. Aber ihre Anwesenheit war verstörend (sorry, dass ich das sagen muss, sie war so verstört, sie hatte nach Jahrzehnten nichts überwunden) - und ich war damals relativ jung, mit wenig Erfahrung, in meinen Dreißigern. Ihr Mann hatte im französischen Exil auf sie gewartet und war nachher erfolgreich als Künstler, als abstrakter Maler. Er hatte in Dessau 1929 bis 1930 studiert und danach die private Kunstschule von Johannes Itten in Berlin besucht, bis zur Emigration 1933. Er stammte aus Lüneburg und ich erinnere mich, dass er die Atmosphäre des Besuchs bei uns durch Anekdoten aufheitern wollte. So erzählte er etwa, dass er einmal in Berlin auf einem Bahnhof stand, und da fuhr ein Zug herein und der Stationsvorsteher rief laut: „Lüneburger!“ und er, damals noch Kurt, junger Bursche, fühlte sich aufgerufen und erschrak — dabei kam der Zug aus Lüneburg. Leppien (die Schlusssilbe wird mit langem i gesprochen) wurde 1910 geboren, in Lüneburg, und starb 1991 bei Paris. Inzwischen ist in seiner Geburtsstadt eine Straße nach ihm benannt. Suzanne starb 1984. Die ich kennenlernte, die Vertriebenen, sie hatten jeder ein eigenes Schicksal und keiner verarbeitete die „Schrecken der Geschichte“ in gleicher Weise. Ich lernte auch viele „Bauhäusler“ kennen, die in die USA oder nach England emigriert waren, und ich meine, deren Schicksale waren anders als die der „Französischen“, weil mit der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen der Ort der Zuflucht zur Hölle geworden war. Zitat Albert Mentzel-Flocon aus einem Aufsatz von 1983, er war also selbst nicht mehr betroffen, sondern hatte sich als Künstler und Lehrer etabliert: „Was ist ein Flüchtling?“ „Moins que rien“ — Weniger als nichts. Dies mein Abschluss der sehr persönlichen Erinnerung. Assoziationen zur Gegenwart sind beabsichtigt. PS. In dem Buch „Albert Flocon, Suites Experimentales 1943 — 1983“, erschienen 1983 in Wien — Berlin (Medusa Verlag und Bauhaus-Archiv) gibt es einen Aufsatz von mir „Die Hand ist ein Auge — Zu den Arbeiten von Albert Flocon“ (deutsch und französisch, wie alle Texte des Bandes, auch die von Flocon selbst und von Hans Maria Wingler und Peter Hahn). Auf diesen Aufsatz griff ich teilweise zurück. Das zitierte, immer noch lesenswerte Buch von Ernst Bloch (über natura naturans und die Mittlerrolle des arabischen Philosophen Avicenna zwischen Aristoteles bis hin zu Giordano Bruno) erschien 1963 in Frankfurt am Main. Oktober 2016 13