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Wittlins Studium der Kunstgeschichte und ihre ersten beruflichen Erfahrungen im Kunstmuseum!!! schienen nicht dazu angetan, sich primär mit Kriegsgeschehen auseinanderzusetzen oder — sozusagen im Gegenzug — mit Plänen für demokratische Erziehung und Museen als Bildungseinrichtungen, geschweige, sich öffentlich dazu zu äußern. Schon in den 1930er Jahren, im damals für hervorragende soziale, wissenschaftliche und künstlerische Leistungen berühmten Wien, bewegte sich Wittlin aber in fortschrittlichen und sozial engagierten Kreisen (neben der Schwarzwald-Schule, waren dies u.a. die International Federation of Business and Professional Women (IFBPW), der Verband der Akademikerinnen, die Wiener Volkshochschule — ein zentrales bildungspolitisches Instrument im Roten Wien), die vielfach Gelegenheit für Information und eingehende Diskussion solcher Fragen boten. So kam Wittlin wiederholt mit einflussreichen Intellektuellen und WissenschaftlerInnen in Kontakt, die an der Gestaltung einer sozialen und demokratischen Gesellschaft interessiert waren. In Großbritannien, schon vor dem Zweiten Weltkrieg waren dies (u. a.) George P Gooch (1873-1968; einflussreicher Historiker, Politiker und Kulturjournalist, seit 1911 leitender Redakteur der Contemporary Review), Hermon Ould (1885-1951), dann auch Mary Ritter Beard (1876-1958), Ida Smedley MacLean (18771944), Frederic C. Bartlett (1886-1969; der Experimentalpsychologe, der ihre zweite Dissertation in Cambridge betreute), Winifred Cullis (1875-1956), oder Karl Mannheim (1893-1947). In den 1940er Jahren war Wittlin beziiglich des Buchprojektes in Mannheims Routledge Reihe'? auch mit Herbert Read (1893-1968) in Kontakt'? und kurz auch mit Otto Neurath (1882—1945),'4 dem österreichischen Philosophen, Ökonomen, Museologen, dessen Arbeit der 1920er und 1930er Jahre in Wien sie kannte." Später, in den USA, wo Wittlin beachtliche Wertschätzung erfuhr, '° konnte sie zeitweise in einschlägigen Pionier-Projekten mitarbeiten, u. a. als Erzichungswissenschaftlerin an der Harvard Graduate School of Education, Boston MA und als Museumskonsulentin an der Smithsonian Institution, Washington DC.” In einem Interview, das die etwa sechzigjahrige Alma Wittlin 1961 in ihrer dritten Heimat, den USA, gab, wurde sie nach Erinnerungen und lebenswichtigen Erfahrungen gefragt.'® Sie erwähnte unter anderem, wie beeindruckt sie als Kind von der Haltung ihres Vaters war, eines jüdischen Großgrundbesitzers in der damaligen k.k. Provinz Galizien, der seine Arbeiter — von Tolstois Ideen begeistert — fast ‚auf Augenhöhe’ behandelte. Sie berichtete vom Mitleid mit entwurzelten polnischen Flüchtlingen (vermutlich galizischen Juden) zur Zeit des Ersten Weltkrieges in Wien”, denen sie als Teenager in Wien Sprachunterricht gab, und von der Schulzeit bei der progressiven, vielseitig engagierten und überzeugenden Eugenie Schwarzwald (1872-1940), die ihr bei der Überwindung der familiären Beschränkungen — traditionelles Frauenbild und Passivität — geholfen habe. Sie sprach von dem Schock, den sie als junge Kunsthistorikerin im Berliner Kaiser Friedrich Museum erlebte, als sie sah, welch befähigende und wirkmächtige Lernumgebungen Museen auch für Laien darstellen, sobald ein relevanter Zugang zu den sonst ‚stummen’ und befremdlichen Objektsammlungen geschaffen war. Sie berichtete weiters von beeindruckenden Erlebnissen in Spanien, wo sie in den frühen 1930er Jahren im Zuge eines Alphabetisierungsprogramms mit Wanderausstellungen teilnehmen durfte. 18 _ ZWISCHENWELT Erst auf die explizite Nachfrage der Interviewleitung zu ihren Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, bemerkte Wittlin (zudem etwas abweisend und unpersönlich), dass die Zerstörung der Kultur und des Zusammenhalts einer großen Gemeinschaft eine unermesslich schlimme Erfahrung sei, selbst wenn nicht ‚alle Familienmitglieder’ umgekommen seien. Die Umstände ihrer Emigration nach England, der Verlust von Freunden, oder von Hab und Gut und der Wohnung bei den Bombenangriffen auf London, Mitte September 1940, kamen dabei nicht zur Sprache.” Wittlin, die umsichtige und genaue Beobachterin, wusste über die komplexen Zusammenhänge bei gesellschaftlichen Entwicklungen und Mustern Bescheid. Dieses Wissen um gegenseitige Abhängigkeiten von Strukturen, medialer Kommunikation einer Gesellschaft, und individuellen Handlungen, zeigte sich sowohl in ihren schriftlichen Arbeiten und in der Museumsarbeit, als auch in ihren Reaktionen auf und ihrer Vorsicht in Bezug auf öffentliche Meinung. Im Jahr 1963 schrieb sie [HK]J:?! Jeder Versuch eine informierte und konstruktive Einschätzung von Kritik zu erstellen, muss mit einer Analyse beginnen, bei der jede Äußerung eines komplexen Syndroms isoliert betrachtet, und auf dieser Grundlage eine Hierarchie der Symptome und ihrer Zusammenhänge erstellt wird, und dann erst besser verstanden werden könnte. Beide, der Lehrer und das Habitat, erfordern eine Untersuchung: die Schule, die Gesellschaft und die Hinterlassenschaften der Vergangenheit, die in den Gemütern der Menschen weiter leben. So wie andere berufsmäßig schreibende EmigrantInnen/ExilantInnen hatte auch Alma Wittlin in den Jahren ihres unfreiwilligen Aufenthalts in Großbritannien (November 1937 bis März 1952)” in unterschiedlichen Medien und Zusammenhängen auf das aktuelle Weltgeschehen Bezug genommen. Einerseits war dies fallweise in ihrer privaten Korrespondenz,” andererseits hat sie sich in den 1940er Jahren in Publikationen, Zeitungen und Zeitschriften zu den Themen Krieg- und Friedensbedingungen geäußert. In diesen Jahren galt ihr Hauptinteresse aber Museen und Ausstellungsarbeiten als gesellschaftliche, ftir den sozialen und politischen Frieden besonders zutragliche Bildungseinrichtungen.™ Aus der Zeit nach ihrer Weiteremigration (1952) in die USA, liegen keine Schriften Wittlins zur Kriegs-Thematik vor, wohl aber ihre Veröffentlichungen zu museums- und erziehungswissenschaftlichen, sowie demokratie-politischen Überlegungen.” Diese sehr unterschiedlichen Arbeiten aus rund 40 Jahren geben Einblick in ihr Denken, das vor allem immer auf den größeren Zusammenhang und die gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen für Krieg bzw. Frieden verweist. Im Frühjahr 1933 verursachten NS-Bücherverbrennungen und Verfolgungen ‘missliebiger’ SchriftstellerInnen in Deutschland heftige Diskussionen beim Kongress des Internationalen PE.N. in Ragusa/Dubrovnik, besonders in den deutschsprachigen Delegationen. Einige Mitglieder des Österreichischen BE.N.-Clubs formulierten in der Folge eine gegen die „geistige Unterdrückung“ in Deutschland gerichtete Resolution (Ragusa-Deklaration), die von einer außerordentlichen Generalversammlung des Clubs am 28. Juni 1933 auch angenommen wurde.” Vermutlich unter dem Eindruck ihrer Diskussionen mit dem Schriftsteller Paul Frischauer (1898-1976), ihres trotz erfolgter Scheidung (1932) weiterhin