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freundschaftlich vertrauten Geschäfts- und Gesprächspartners, unterzeichnete Wittlin diese Protestnote.”” Unter dem (verheirateten) Namen A. S. Frischauer war Wittlin zuerst als Journalistin in Erscheinung getreten, mit sieben kurzen Berichten zu aktuellem Kunst-Auktionsgeschehen (1928) in der Wiener Tageszeitung Die Stunde und dann, 1930, mit der Übersetzung eines Romans aus dem Englischen?®. Schon diese Beiträge lassen vermuten, dass Wittlin, deren Familie im Krieg in Galizien große finanzielle Verluste erlitten hatte, sich über den Zusammenhang von raschem Auf- und Ab am Kunstmarkt, von wechselndem Kunst-Besitz und transnationalem Geflecht der Machtbezüge keine Illusionen gemacht haben dürfte.” Neben der Mit-Unterzeichnung der Ragusa-Deklaration, mit der Wittlin für freie Meinungsäußerung und Demokratie eintrat, gibt es sowohl weitere Zeugnisse für ihr Engagement gegen die NS-Politik, deren Expansions- und Kriegshandlungen,? als auch solche, die ihre Überlegungen zum Themenfeld längerfristig angelegter demokratiepolitischer Bildung und Erziehung, und in diesem Zusammenhang, ihre Arbeiten zu Museum und Gesellschaft darlegen. In den historischen Biografien, eine über die Spanische Königin Isabella (1451-1504),?' die andere über Abdul Hamid (1842-1918), den letzten (Roten) Sultan,” behandelte Wittlin Mechanismen von individueller und kollektiver Machtpolitik in Zeiten entscheidenden sozialen und kulturellen Wandels. Diese Werke gaben Gelegenheit, sich mit der Rolle außergewöhnlicher Individuen innerhalb größerer gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen auseinanderzusetzen, mit ihren Hoffnungen und ihren psychologischen Situationen. Wittlin bettete Isabellas Leben in die historischen Entwicklungen, die zum proto-nationalen Staat des heutigen Spanien führten, wobei sie den Fokus auf die Ambitionen des machtprotzenden Adels legte, an der Zeitenwende von Mittelalter zur Renaissance. Die Katholische Königin, die ‚Staatsfrau, die persönlich mit ihren Feinden litt‘, wird in ihrer Kriegsführung gegen die Mauren, in der Verfolgung der Juden, der Erfindung des ‚Sündenbocks‘ der für alles herhalten musste, gezeigt, in Zeiten von Unglück und sozialer Unruhe, der Ablasspolitik, der Entdeckung der Neuen Welt, der Kreuzzüge, der Säuberungsaktionen und Inquisition. Im Jahr 1936, d.h. zu unruhigen Zeiten in vielen europäischen Ländern mit Bürgerkrieg in Spanien, legte Wittlin eine eindrucksvolle und gut recherchierte Beschreibung der historischen politischen Auseinandersetzungen und Kulturkämpfe aufder Iberischen Halbinsel vor. Wie im Buch über Abdul Hamid — vermutlich auch in diesen Jahren begonnen -— bot Isabella interessante Themenschwerpunkte, die von der Autorin mit Sachwissen und Eloquenz behandelt wurden, und Gelegenheit, sich mit der Psychologie mächtiger Persönlichkeiten innerhalb von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Wittlin, die im Alter von 38 Jahren von Wien nach England emigrierte, hielt sich dort zumeist in London auf (von 1941 bis 1946 war sie in Cambridge). Sie scheint, mit Ausnahme einer Mitgliedschaft beim Österreichischen (Exil)-PE.N.-Club,® in keiner der vielfältig aktiven, kultur- und/oder politisch-engagierten Exilorganisationen auf.” Die Verbindung zum PE.N.-Club, zur Londoner Sektion, deren Mitglied Wittlin im Jahr 1939 wurde,” und auch die Bekanntschaft mit Hermon Ould, dem Kriegsdienstverweigerer, Quäker, und Generalsckretär des Internationalen PE.N., hatten aber schon längere Zeit bestanden. In Wittlins Korrespondenz mit Ould finden sich ihre persönlichsten Anmerkungen zum aktuellen Kriegsgeschehen. Einige Briefstellen bezichen sich direkt auf kriegsbedingte Notsituationen, auf mögliche Hilfs- und Aufbaumaßnahmen und pädagogische Erfordernisse: So fragt Wittlin im Dezember 1938 bei Ould an, ob nicht die Hilfe des PE.N. für die Unterbringung von Flüchtlingskindern, die mit den Kindertransporten nach England gekommen waren, zu erreichen wäre. Wittlin spricht sich für professionell geleitete Heime aus. Ihrer Meinung nach waren dies besser geeignete Unterbringungs-Orte für Kinder und Jugendliche, als die (im Vergleich) nicht so leicht einzuschätzenden humanitär-pädagogischen Gegebenheiten bei privaten Aufnahmen in Familien.’ Zwei Zeitungs-Reportagen zum Kriegsgeschehen aus dem Jahr 1941 dokumentieren Wittlins journalistische Propaganda-Tätigkeit für das Ministry of Information (Mol) und werden im Folgenden kurz besprochen. Es muss jedoch vorausgeschickt werden, dass Wittlin über diese Arbeit beim MoL;? die ihren Alltag in den ersten Kriegsjahren vermutlich schr erleichtert hatte, entschieden unglücklich war.’® Dies lädt wiederum zu Spekulationen ein, ob diese Ablehnung eventuell ihren eigenen Kriegserlebnissen, dem Wissen um Informationsmanko, oder einer allgemeinen Verunsicherung, Müdigkeit und Verzweiflung zu schulden war. Wittlin versicherte jedenfalls mehrfach, sie wolle jegliche Arbeit annehmen, die ihrer beruflichen Spezialisierung, nämlich Kunst, Kunstgeschichte, entspräche.” In „Exiles on the Roads of Europe“, einem längeren Beitrag, der am 18. Jänner 1941 in einer Tageszeitung der nordenglischen Stadt Hull® erscheint, nimmt Wittlin zwar nicht direkt, aber dennoch konkret — nämlich mit den im Artikel mehrfach verwendeten Begriffen ‘Lebensraum’, Neue Ordnung’ — Bezug auf Adolf Hitlers Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939 und die durch das NS-Regime erfolgten Besetzungen und Vertreibungen (Polen, Frankreich). Am Beginn dieses Artikels steht die Geschichte eines einfachen polnischen Bauern, der seine Weigerung, Haus und Hof zu verlassen, mit dem Leben zu bezahlen hatte. Dann folgen Schilderungen von Gewalt und Brandschatzung, bewegende Szenen von nutzlosem Widerstand und verzweifelter Flucht, sowie kurze Erläuterungen zu NS-„Strafmaßnahmen“ wie Zwangsarbeit, Konzentrationslager, Sklavenarbeit. Der Artikel endet mit einem Aufruf Wittlins, nicht nur zu beten, sondern sich rasch für die Freilassung der ‘slaves on the roads of Europe’ und das Ende von Hitlers verdammter ‘Neuer Ordnung’ zu engagieren. In der in London zu diesem Zeitpunkt neuen, deutschsprachigen Exilzeitschrift Die Zeitung veroffentlichte Wittlin ebenfalls einen Beitrag. Am 16. April 1941 erschien ihr Artikel, „In der Wüste des Hasses. Nazi-Eindringlinge leiden unter Zivil-Nervenkrieg*.*! In vier Abschnitten (Wenn die Eindringlinge Besitz ergreifen; Unerklärliche Unglücksfälle; Höflichkeit im Wege der Verordnung; Gestapo kann ihn nicht unterdrücken) schildert Witdlin verschiedene Alltagsgeschehnisse, die das Verhältnis der Besatzungsmacht zur Bevölkerung der unterworfenen Länder charakterisieren. Sie Oktober 2016 19