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unmöglich zu erfahren, was wirklich vorging. Sicher war nur die völlige Unsicherheit. Hier mischte sich Rashid ein. „In der Nacht hat meine Mama überhaupt nie geschlafen, nur hin und wieder eine Stunde oder so, am Tag sind ihr oft die Augen zugefallen, dann habe ich aufgepasst auf die Kleine. Die Russen sind gekommen mit schwarzen Masken wie im Fernschen. Die Türen haben sie eingeschlagen, Zerfetzt, gesprengt, zerhauen. Alle sind aufgefahren, aber ich, ich habe geschlafen! Geschlafen in dem ganzen Krach! Kannst du dir das vorstellen? Ich hab geschlafen und geträumt, dass sie mit ihren schwarzen Masken durch das Dorflaufen und um sich schießen.“ Er hielt den Teddybären an einem Bein hoch, zerrte an dem krausen Fell, es sah aus, als würde er es büschelweise ausreißen. „Ich bin doch verantwortlich für Mama und für die Schwestern!“ Als die Mutter sich zur Flucht entschied, sprach sie nur mit ihrem Bruder darüber. „War es schlimm für dich, dass sie dir nichts gesagt hat?“, fragte ich. Rashid schüttelte den Kopf, zögerte, bevor er langsam antwortete. Nein, er hätte ja vielleicht mit seinem Freund darüber reden können, und der hätte es vielleicht seiner Mutter gesagt, und die hätte wieder... Nein, es wäre zu gefährlich gewesen. Rashid war so vernünftig, dass es weh tat, ihm zuzuhören. Um sechs Uhr früh bestellte die Mutter ein Auto, erst fünfzehn Minuten vor der Abfahrt sagte sie dem Bruder ihres Mannes, was sie vorhatte. Es war mit Händen zu greifen, dass sie nicht einmal den geringsten Teil ihrer Erlebnisse auf der Flucht erzählte, ob aus Rücksicht auf ihren Sohn oder aus Angst vor der eigenen Erinnerung. „War schon schwer, natürlich. War schon schwer.“ Sie stand plötzlich auf, ging in die Küche und kam gefolgt von Aysha zurück, die eine Tarte anbot, eine Köstlichkeit aus Mandeln, Topfen und Honig, noch warm. Die kleine Tochter verfolgte jeden Bissen, den ich in den Mund nahm, und teilte mir mit, sie hätte „das meistens gebacken“. „Du hast geholfen“, korrigierte Rashid. „Nein. Asma hat geholfen. Ich hab meistens gebacken.“ Einen Augenblick lang sah ich ein Lächeln über das Gesicht der Mutter zittern. Im Nebenzimmer begann das Baby zu weinen. Aysha sprang auf und lief hinaus. Rashid blickte ihr nach. „Sie ist noch nicht da, verstehst du?“ Ich nickte, obwohl ich wusste, dass ich nicht wirklich verstand, nur so viel, dass Aysha noch nicht angekommen war in Wien, wahrscheinlich war auch Rashid noch nicht angekommen, seine Mutter gewiss nicht, Asma vielleicht, die konnte sich anhalten an ihrem Baby, aber möglicherweise war auch das eine Täuschung. Heimisch geworden waren sie nicht, dagegen sprach die Kahlheit der Wohnung, da hatte sich niemand eingerichtet, hätte die Mutter es als Verrat empfunden, sich einzurichten, Verrat an wem, an dem jungen Mann mit dem schönen Schnurrbart in seinem weißen gestärkten Hemd? Mein Blick fiel auf das Informationsblatt der Islamischen Gemeinde an der Tür. Ob der Islam für ihn wichtig sei, fragte ich Rashid. „Sehr wichtig“, antwortete er bestimmt. „Aber ich bete nicht fünfmal am Tag, manchmal nur ein einziges Mal. Mama betet fünfmal am Tag, aber zu Hause, nicht in der Moschee. Man muss doch an Gott glauben.“ Ein Bein des Bären stand völlig verdreht ab, ich fürchtete schon, es würde gleich abgetrennt, und fragte Rashid, ob er sich an seinen Vater erinnern könne. 32 _ ZWISCHENWELT „Natürlich!“ Er erzählte von einem Muttertag, an dem er mit seinem Vater in ein Blumengeschäft fuhr und sie das Auto mit Blumen füllten. Rashid breitete die Arme weit aus. So viele Blumen! Der Rücksitz quoll über vor Blumen, die Blumen kitzelten ihn im Nacken wie er da saß, neben dem Vater. Er senkte den Kopf, die Mutter strich ihm flüchtig über die Hand. Sofort straffte er sich, der Abstand zwischen Mutter und Sohn war wieder so groß wie zuvor. Ja, sagte Rashid, sein Vater sei sein Held und sein Vorbild. Er werde nach Tschetschenien zurückkehren, natürlich. Am liebsten würde er gleich aufbrechen. Immer habe es Kriege mit den Russen gegeben, schon in der Ritterzeit. Immer. Die Russen hätten gesagt, Tschetschenien werde frei sein, aber so sei es nicht gekommen. Gorbatschow sei einverstanden gewesen, aber Jelzin nicht. Die Russen hasse er nicht, Putin hasse er. Rashid war immer lauter geworden, übergangslos schüttelte er sich, machte ein Gesicht, das ich bei alten Männern im Techaus geschen hatte, nie bei einem Burschen seines Alters. Es gebe überall gute und schlechte Leute. Auch hier in Wien. Ich dürfe nicht alles glauben, was über Tschetschenen geschrieben werde. Das meiste seien Lügen! Seine Stimme klang, als lese er den Text irgendwo ab. Die Mutter bot mir noch ein Stück Tarte an, ich lehnte dankend ab, bat aber um das Rezept. Sie rief Asma, die offenbar über den Auftrag nicht glücklich war. Ich hatte ihr doch nur zeigen wollen, wie sehr ich ihre Backkunst schätzte. Rashids Mundwinkel zuckten fast unmerklich. Hatte er meine Verlegenheit registriert und amüsierte sich darüber? Ich hoffte es. Warum mir die Mutter plötzlich nicht so in sich geschlossen erschien, weiß ich bis heute nicht. Sie saß noch genau so statuenhaft da, aber irgendetwas war anders, war gleichsam aus dem Lot gekommen. Ich wandte mich an Rashid. „Was machst du eigentlich gern?“ Es war mir bewusst, wie schwachsinnig die Frage war, sie sollte auch nur die gefährliche Kluft überbrücken, die sich unvermutet aufgetan hatte, und es möglich machen, sich freundlich zu verabschieden. „Dasselbe wie jeder andere. Rad fahren und Playstation spielen.“ Dasselbe wie jeder andere. Die Antwort steckte deutlich seine Grenzen ab. Betreten verboten. Recht hast du, dachte ich. Es ist ja wohl iibergriffig, dich verstehen zu wollen. Ich verstehe dich nicht, wie könnte ich dich verstehen? Verstehen wir nicht oft um den Preis des Weglassens von allem oder wenigstens vielem, was den Anderen anders macht? Welche Anmaßung. Die ganze Zeit war er völlig gerade dagesessen, ohne je den Kopf nach links oder rechts zu drehen. Jetzt schaute er mich an. Zu Hause hatte er ein schwarzes Pferd gehabt, ein Geschenk von seinem Vater. Strela hieß es, das bedeutete Pfeil. Zu Hause gab es einen kleinen Bach mit vielen Strudeln drin. Über Steine konnte man in den Garten gehen . Ob ich mir vorstellen könne, was passiert wäre, wenn es keinen Krieg gegeben hätte? Wenn es keinen Krieg gegeben hätte. Ich hätte Rashid gern in den Arm genommen. Das tat ich natürlich nicht. Ich hatte das Gefühl, dass er zum letzten Mal in den Arm genommen worden war, als er ungefähr so alt war wie das Baby seiner Schwester Asma. Wenn es keinen Krieg gegeben hätte, Rashid, dann säßest du nicht hier auf einem Stapel Matratzen, dachte ich, dann säßest du auf deinem Pferd, und dein Vater läge nicht im Grab, dann wärst du ein anderer, deine Schwestern wären andere, die Mutter