OCR
Können und österreichischer Fleif°“ zu vollbringen vermögen. Zuletzt durchschnitt der Bundeskanzler ein über die Fahrbahn gespanntes Band und setzte sich in das in der ersten Reihe wartende Auto. Die anderen folgten ihm auf der ,,vierbahnigen Erstlingsfahrt einer kilometerlangen Autokolonne“. (Salzkammergut Zeitung, 1961, Nr. 41, S. 1) Das Reden über die Schönheit der neuen Straße, die gelungene Einbettung in eine herrliche Landschaft, die Überreichungen der Orden, kilometerlange Autokolonnen, der Beweis der Leistungsfähigkeit, die Viererreihen, immer wieder die Rede von dem gigantischen Werk und dem bezeugten technischen Können ... das alles kam Gwowa so bekannt vor. Es gab weniger Uniformen, dafür mehr religiöse Gewänder, neu war das Österreichische am Fleiß. Gwowa suchte nach den Arbeitern, die die Pfeiler errichtet hatten. Vor seine Augen trat Stanislaw, wie dieser die Hände hochgerissen, sie über sein Gesicht zu halten versucht hatte. Es war nur ein kurzer Augenblick gewesen. Im nächsten waren die großen Steine aufihm und hatten ihn erdrückt. Gwowa sah die schier unermessliche Angst in den Augen des Arbeiters. Das vielfache Zuschlagen von Autotüren unterbrach Gwowa in seinem Nachschauen, Männer riefen ihre Frauen sich zu beeilen, in kurzen Abständen starteten Motoren, fuhren die Autos langsam ab. In seine Nase kroch der Fortschritt, der nach Benzindämpfen roch. Seine Gedanken kehrten zurück zu den polnischen Arbeitern. Kurz nach dem Tod von Stanislaw hatten sie begonnen das Lager umzubauen. Der Stacheldraht um das Lager war verdoppelt worden. In den Baracken hatten sie Zwischenwände herausgerissen, die Betten enger gerückt und auf den leeren Plätzen einfachste Holzpritschen errichtet. Ihr werdet verlegt, hatte man ihnen gesagt. Die Neuen brauchen weniger Platz, hatte ein Wachsoldat gelacht. Die Neuen waren am Bahnsteig in Feldham angekommen. Ein Güterzug mit offenen Waggons hatte angehalten. Es muss nach Allerseelen gewesen sein, jedenfalls war es die Zeit, in der die Nebel ins Tal einfallen und die Sonne oft tagelang nicht durchkommt. Güterzüge waren nichts Seltenes. Seit Beginn des Autobahnbaus hatte der Güterverkehr stark zugenommen, ganze Ladungen voll Zement hatten sie angeliefert, die Brauerei im Ort bekam Hopfen, die ersten RAB-Arbeiter hatten viel getrunken, inzwischen galt das Brauen von Bier als kriegswichtige Produktion. Kaum einer der Neuen hatte eine wärmende Mütze oder Kappe, manche hatten ein Tuch über den Kopf gebunden. Die Waggons waren voll belegt gewesen. Belegt ist der falsche Ausdruck, dachte Gwowa, sie waren gestanden, der Waggon war so voll gefüllt, dass ein Sichhinsetzen oder Sichhinlegen unmöglich war. Vollst gefüllt wäre ein passenderer Ausdruck, aber gibt es eine Steigerungsform von voll. Die Türen des Waggons waren von außen geöffnet worden. Aussteigen, hatte ein Wachsoldat geschrien. Langsam bewegten sich die Ersten. Schneller, rief ein Wachsoldat. Einige stürzten aus dem Waggon. Aufstehen, rief ein Wachsoldat. Zwei waren liegen geblieben, auch die Schläge mit dem Gewehrkolben hatten nichts bewegt. Zwei auf der Anreise gestorben, wird später in einem Formular stehen. Ungepflegt und unrasiert, so könnte man es in Kurzform bezeichnen, etwa bei einem Formular, wo eine Zeile für das Aussehen vorgesehen war. Sie mussten sich schon wochen- oder monatelang nicht rasiert haben, bei vielen war der Bart länger und üppiger als die Kopfhaare. Auch die Hände ungepflegt, eingerissene und 34 2WISCHENWELT dreckige Fingernägel, die wenigsten hatten Handschuhe, wenn, dann waren sie zerrissen, aus den Löchern der Handschuhe schauten wiederum mit Dreck und Blutresten verkrustete Finger. Es gab keine Jacke, an der nicht mindestens ein Knopf fehlte. Die meisten waren an den Achseln eingerissen, oder die Seitentaschen waren aufgerissen, ein Riss am Rücken, mehrfingergroße Löcher vorne oder hinten oder überall an der Jacke. Die wenigsten hatten einen Mantel über der Jacke an. Noch zerrissener waren nur die Hosen, keine einzige Hose hatte einen abgesteppten Rand. Wahrscheinlich waren sie sich gegenseitig auf die Füße getreten und hatten den Hosenrand abgerissen. Langsam bewegte sich der Zug der Gehenden von der Haltestelle in Richtung zukünftige Autobahnauffahrt. Die Grundfarbe der Hosen war nicht mehr erkennbar, so verschmutzt und löchrig waren sie. Einer hatte einen offenen Hosenstall, die Unterhose war zu sehen, auch sie verdreckt und gelblich verfärbt, alle Knöpfe des Hosenstalls fehlten. Nicht nur einer hatte ein großes Loch im Kniebereich der Hose und man sah die Blutkrusten eines aufgeschlagenen Knies. Zwei Ochsengespanne waren auf der Straße zum Dorf unterwegs. Sie hatten angehalten. Einige Bewohner der umliegenden Bauernhäuser waren vor die Türen getreten und beobachteten den Marsch der Neuankömmlinge. In anderen Häusern sah man, wie Vorhänge verrutschten. Ältere Schüler hatten rasch von der Ankunft des Transportes erfahren, die Gesichter der Neuen zogen ihre Blicke an. Die Wangen waren eingefallen, die Gesichtsknochen, jeder einzelne Gesichtsknochen war erkennbar, die Schüler hatten kürzlich vom Aufbau des Skelettes und des Kopfes gelernt. Hier sahen sie jeden einzelnen Gesichtsknochen, die Backenknochen und die Kieferknochen, das Nasenbein und das Stirnbein. Nur Haut schien die Knochen zu bedecken. Im Gegensatz zu dem Skelett in der Schule bewegten sich diese Gestalten aus Haut und Knochen. Auch an der Haut fiel ihnen das Fremde auf. Die langsam Gehenden waren grau im Gesicht. Einzig die Lippen wichen vom Grau ab, sie waren angeschwollen und hoben sich von den Zähnen weg, die Lippenränder zogen sich in Richtung Nasen und Kinnspitzen. Was ließ die Lippenwiilste so farbig rot erscheinen, überlegte Gwowa. An den Mundwinkeln hatten sich gelblichbraune Krusten gebildet, einige bluteten an diesen Stellen. Mehrmals wollte er den Blick von den roten geschwollenen Lippen und den farblosen Gesichtern abwenden. Einer der Neuen wischte sich mit seinem verdreckten Ärmel über den Mund. Wie lebende Tote schauen sie aus, hatte in diesem Moment ein alter Knecht gemurmelt. Die neuen Bewohner des Lagers Almtal hatten ihre Mehlsuppe ausgelöffelt. Einbrennsuppe sagen die Bewohner des Tales dazu. Einbrennsuppe ist einfach zu kochen. Es bedarf wenig Fettes, das in einer Pfanne oder einem Topf heiß gemacht wird. Dann wird Mehl hineingestreut und leicht angebraten und Wasser darauf geschüttet. Je nach Jahreszeit und Größe des Hauses werden verschiedene Gemüse dazugegeben. In der Einbrennsuppe der Männer waren nur Steckrüben geschwommen. Auf Brot sollte weitestgehend verzichtet werden, hatte es in der neuen Anweisung gcheißen, stattdessen sollte Mehlsuppe gereicht werden, möglichst einfach sollte die Ernährung sein. Die Männer hatten ihre Suppe ausgelöftelt, bis zum letzten Rest, den ihre Löffel erkratzen konnten. Nicht nur ausgelöffelt, sondern die Löffel abgeschleckt und die Essschüsseln ausgeleckt. Mehrmals hatten sie den leeren Löffel in den Mund gesteckt und langsam mit Lippen und Zunge