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ich hatte mich verirrt als heimkehrer verkleidet unter diesen marionetten überlebende nach all den jahren ihre bewegungen wie angegossen sehnsucht kroch entlang der häuserzeile — so viele deren ausbrüche missglückten sollte mir das abwarten doch gelingen? JUBILÄUM lange leben wir schon immer schneller zusammen auf diesem schmalen vehikel auf diesem kontinent der sehnsucht kaum steigt die sonne ist auch der erste wind da wir erinnern uns daran: die stadt mit den türmen die stadt voller staub die wachtraumstadt der denunzianten die stadt am fuss umgeben von wald alle städte wo wir waren alle ihre bahnhöfe die so verschieden sind Maya Rinderer Ihre andere Stadt. Erzählung Treffpunkt war der Hauptbahnhof. Ein paar Tiroler Jugendliche warteten bereits, als Rayna ankam. Sie stellten sich einander vor und gaben sich die Hand, eine Betreuerin und ein Betreuer, die jugendliche Kleidung trugen und gutgelaunt über das Projekt zu erzählen begannen, waren auch da. Als sie vollzählig waren, fuhren sie in einem großen Reisebus zum Flughafen. Es war schon Abend und der Flug aus Tel Aviv verspätete sich, weil starker Wind die Landung verzögerte. Das Mädchen, das neben Rayna in der Wartehalle saß, hieß Stella und erklärte, dass Innsbruck den gefährlichsten Flughafen der Welt habe und dass Pilotinnen und Piloten eine eigene Zulassung brauchten, um hier landen zu dürfen. Stella fragte Rayna, ob sie schon wüsste, mit wem sie ihr Zimmer teilen würde, und als Rayna verneinte, reichte sie ihr einen Zettel. „Dreierzimmer, aus jeder Gruppe eine Person“, sagte sie. „Man unterteilt uns also schon in verschiedene Gruppen?“, fragte Rayna. „Na ja, es gibt uns, die Tiroler, dann gibt es die Israelis und die Araber“, sagte Stella. „Oder Palästinenser?“ „Gute Frage“, sagte Rayna. „Wenn sie israelische Passe haben, aber sich als Palästinenserinnen und Palästinenser sehen, oder? Das werden sie dir selber besser erklären können.“ Stella sah betroffen drein. „Hm“, machte sie- und schien schnell das Ihema wechseln zu wollen: „Du sprichst so gutes Hochdeutsch, und das lächeln von allen kindern auf der straße und der grasgeruch am morgen und die große fabrik wenn man uns kontrolliert zeigen wir unsere flüchtigen werke her wir hantieren mit einer orange wir machen muster auf papier wenn wir glück haben dürfen wir noch eine weile bleiben wenn wir glück haben kommen wir noch über die grenze dieser tag heute erinnern wir uns daran Felix de Mendelssohn, geboren 1944 in London als Sohn von Hilde Spiel und Peter de Mendelssohn, ist als Psychoanalytiker und Gruppenanalytiker in Wien titig. Publikationen: Die Gegenbewegung der Engel: Psychoanalytische Schriften zu Kunst und Gesellschaft (Wien 2010); Der Mann, der sein Leben einem Traum verdankte (Salzburg 2014). bist du wirklich aus Vorarlberg? Und außerdem — Rayna, was ist das für ein Name?“ „Jüdisch“, sagte Rayna kurz angebunden. „Bist du Jüdin?“ „Ja.“ „Zu welcher Gruppe gehörst du dann?“ Stella schien verwirrt. „Ich dachte, der Sinn von diesem Projekt ist, dass wir diese Einteilungen auflösen“, sagte Rayna. Sie schaute auf den Zettel hinunter und suchte ihren Namen. Sie fand ihn schnell in der Tabelle, sie war zusammen mit einem Mädchen namens Naama Danziger und einem Mädchen namens Jinan Salama im Zimmer. Stella würde ihr Zimmer mit Linoy Berkovic und Zabra Maloof teilen. „Merkwürdige Namen, nicht?“, sagte Stella. „Zum Beispiel Inbal. Was ist das für ein Name, bitte?“ Rayna drehte das Blatt um, auf der Rückseite war die Tabelle mit der Zimmereinteilung der Jungen. Sie las sich die Namen durch. „Warum machst du eigentlich hier mit?“, fragte Rayna Stella. Die Frage klang unbeabsichtigt schroff. „Meine Mutter kennt den Betreuer“, sagte Stella schulterzuckend. Sie mussten nicht mehr lange warten. Im Reisebus wurden sie angewiesen, sich neben jemanden aus einer anderen Gruppe zu setzen. Rayna setzte sich neben ein blauäugiges Mädchen mit olivenfarbener Haut, dessen blondiertes Haar zu kleinen Zöpfchen geflochten war, und fand kurz darauf heraus, dass es sich um Jinan handelte, mit der sie auch im Zimmer sein sollte. Sie Oktober 2016 37