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fragte sie, wer Naama sei, und Jinan verdrehte die Augen, zeigte aufein schüchternes Mädchen, das neben einem arabischen Jungen saß und sich anscheinend kaum zu reden traute. Jinan kaute auffällig Kaugummi und beschwerte sich über die anstrengende Reise hierher. Obwohl es schon recht spät war, durften sie ihr Gepäck in der Jugendherberge nur in die Zimmer stellen und trafen dann im Seminarraum zusammen, wo mit einer Vorstellungsrunde begonnen wurde. Als Rayna drankam, erzählte sie, dass sie aus Dornbirn sei, zwei Stunden von Innsbruck entfernt, und einen österreichischen Vater und eine israelische Mutter habe. Sofort begannen ein paar Leute sie auf Hebräisch zu fragen, ob sie Hebräisch könne. Rayna fand heraus, dass zwar alle arabischen Jugendlichen mehr oder weniger Hebräisch sprachen, keiner der jüdischen Israelis aber Arabisch. Am nächsten Tag unternahmen sie am Vormittag eine Wanderung in den Bergen und am Nachmittag spielten sie social games, wie Jinan es abwertend nannte, die den Sinn hatten, einander besser kennen und vertrauen zu lernen. Es war ein heißer Tag; Rayna genoss die Wanderung, denn anders als viele der israelischen Madchen, die Flip-Flops trugen, jammerte sie nicht. Hinter jeder Anhöhe erhob sich noch eine, die man zuvor nicht geschen hatte. Unter den Bäumen war es kühler, ein Bach lief vorbei. Manche blieben stehen, schöpften das Wasser heraus, bespritzten sich gegenseitig. Je höher sie kamen, desto größer sah der Himmel aus. Wenn sie unter freiem Himmel liefen, roch die Luft süßlich vom gemähten Gras, es gor in der Sonne und stank davon. Kühe grasten auf Wiesen ohne Umzäunung — Rayna hatte das Gefühl, sie würde ihr Leben wiederkauen, es war ein Déja-vu, so zu gehen, wie an einem Wandertag mit ihrer Klasse. Diese Leute könnten eine neue Schulklasse sein, dachte sie. Während der Wanderung hatte Rayna schon die Möglichkeit, mit vielen von ihnen zu reden und es hatten sich schon Grüppchen gebildet. Rayna fand Naama langweilig und zu religiös, aber Jinan war unterhaltsam und außerdem freundete Rayna sich mit Inbal an, die auch Ballett tanzte. Nach dem Abendessen in der Jugendherberge trafen sie sich im Seminarraum und aßen Elite-Schokolade, Bamba-Erdnussflips und Baklava. „Du bist die aus Dornbirn“, sagte einer der arabischen Jungs auf Hebräisch zu Rayna. „Rayna“, sagte sie. Du heißt Rafıg, oder?“ „Stimmt genau.“ Er lächelte. Sie redete den restlichen Abend fast nur mit ihm. Er erzählte ihr von seinem Leben in Jerusalem, wie er seine Eltern überredet hatte, ihn nach Österreich fahren zu lassen. Er sagte, dass sie zu Hause nie darüber sprachen, mit den Israelis Frieden zu schließen, und dass er auch wenige Freunde hatte, mit denen er über Politik redete. „Lass dich nicht täuschen“, sagte er. „Wir sind zwar jetzt alle hier nett zueinander und Freunde, aber in ein, zwei Jahren kommen die jüdischen Leute auch ins Militär und ziehen ihre Uniform an. Sie würden uns auf der Straße nicht ‚Hallo‘ sagen und wir würden ihnen in ihrer Uniform nicht ‚Hallo‘ sagen.“ Rayna musste in den nächsten Tagen feststellen, dass Rafiq Recht hatte. Es war wie in einem Sommercamp mit Leuten, mit denen man sonst nie etwas zu tun hätte. Sie bekamen eine Stadtführung durch Innsbruck, es gab noch mehr Wanderungen in den Bergen, gemeinsames Floßbauen an einem See. 38 ZWISCHENWELT Am dritten Tag wurden die drei vertretenen Religionen vorgestellt, sie hatten sogar Requisiten und versammelten sich auf einer Wiese während einer Wanderung, um die vorbereiteten Zeremonien durchzuführen. Rayna ging zu der jüdischen Gruppe und Kalab war der einzige christliche Araber. Rayna durfte so tun, als ob sie die Shabbatkerzen anzünden würde. Sie kniete im Gras und fand das Ganze absurd. Am Abend saßen Rayna, Inbal, Rafig, Kalab, Jinan, Stella und noch einige andere bis spät im Seminarraum aufdem Boden und redeten über alles, nur nicht über den Nahostkonflikt. Rayna kam es sogar so vor, als ob das die meisten gar nicht so interessierte, sie wollten viel eher über Filme reden und über Reisen und über Musik und über Sex. Am nächsten Morgen, als Rayna ins Bad kam, hatte Naama so heiß geduscht, dass der Spiegel ganz beschlagen war. Rayna zeichnete beim Zähneputzen keine Peace-Zeichen oder Friedenstauben mit dem Finger in das stumpfe Halbweiß, sondern Herzen. Rayna zog sich warm an. Sie fuhren mit dem Bus, Rayna saß neben Rafiq und erschauderte, wenn ihre Hände sich zufällig berührten. Die meisten waren noch nie auf einem Gletscher gewesen. Rayna erinnerte sich immer wieder daran, dass es Sommer war, aber mitten im Nebel war es so kalt, dass ihre Haut taub wurde, der Wind schnitt wie Messer und die anderen waren nur als schemenhafte Umrisse zu erkennen. Außerdem lag nicht einmal so viel Schnee, sie mussten über Geröll klettern und als sie durch die Eishöhlen geführt wurden, wo viele ausgiebig fotografierten, drang die Nässe in Raynas Schuhe. Sie hatte Angst, krank zu werden und war erleichtert, als sie wieder im Bus waren. „Fühl mal wie kalt“, sagte sie und reichte Rafiq ihre Hand. Er ließ sie die ganze Fahrt lang nicht mehr los. Am Abend stand Rayna nach dem Zubettgehen wieder auf, zog einen Pullover über und hoffte, Rafıq im Tischtennisraum zu finden. Er war nicht allein, Kalab war auch da, aber der blieb nicht lange. Rayna und Rafıq verließen den Raum und gingen spazieren. „Kalab hat zu mir gesagt, ich sähe so israelisch aus“, sagte Rayna. „Fühlst du dich israelisch?“ „Natürlich nicht“, sagte Rayna. „Ich weiß gar nicht, was Kalab damit meint.“ „Deine Hochnäsigkeit wahrscheinlich“, sagte Rafıq und lachte, als Rayna ihm mit der Faust auf den Oberarm schlug. „Aber ich fühle mich auch nicht als Österreicherin“, sagte Rayna dann. „Für mich sind es die Städte. Dornbirn und Tel Aviv. Ich liebe sie beide. Sie sind wie zwei Halbschwestern von mir, eine von der Mutter, eine vom Vater.“ „Wie poetisch“, sagte Rafıq lächelnd und Rayna boxte ihm in die Seite, aber diesmal sanfter. Rayna ging langsamer. Sie wollte das hier in die Länge zichen, mit Rafiq alleine zu sein, einfach mit ihm reden zu können. „Glaubst du, das hier bringt etwas?“, fragte Rafiq. „Dieses Friedensprojekt? Immerhin ist yalla das häufigste Wort. Und alle benützen es. Das ist doch schon einmal etwas.“ Die Rezeption war um diese Zeit unbesetzt, das Licht gedimmt. „Schlafen die alle schon?“, fragte Rayna. „Weißt du, wie spät es ist?“ „Ist das eine rhetorische Frage?“ Rafiq lachte. „Nein, ich weiß es auch nicht.“ Raynas vom vielen Tragen weiche Flip-Flops machten kaum Geräusche beim Gehen. Sie drehten zwei Runden in der Lobby, redeten leise, dann blieb Rayna stehen und hob das Absperrband