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an, hielt es so weit hoch, dass sie sich hindurchducken konnte, und spürte förmlich, wie die Dunkelheit des sauberen, aufgeräumten, leeren Restaurantbereichs sie verschluckte. Es war fast nichts zu erkennen, nur Umrisse und die gespenstische Glätte und Nacktheit der Oberflächen, die in einem besonderen Winkel etwas Licht einfingen und schimmerten. Das Buffet war geschlossen, wie ein schlafendes Tier, dessen Augenlider schwer und faltig niederhingen. Rayna wartete auf Rafiq, dann gingen sie wieder nebeneinander, aber Rayna führte sie beide, langsam und ohne wahrnehmbare Bewegung den Gang entlang, vorbei an der Tür zum kleinen Speisezimmer, in dem ihre Gruppe immer aß. Der Gang mündete in das große Speisezimmer mit den orangen Tischen, die jetzt alle dunkelgrau waren. Raynas Brustinneres war aufgewirbelt, als hätte eine Welle sie niedergerissen. Ins Meer gedrückt, Salzwasser schluckend, nicht sehend, weil ihre Augen brannten und der Sand hoch stob, sagte sie atemlos noch etwas, aber ihr Gehirn schaltete ab. Sie sah Grün im Schwarz und registrierte benommen, wie sanft er den Kuss erwiderte. Vor Raynas Zimmertür küsste Rafiq sie noch einmal. Einen kurzen Augenblick lang dachte Rayna, dass sie keine Schlüsselkarte dabeihatte, dann hätte sie mit Rafiq mitgehen müssen, bei ihm schlafen, oder bis zum Morgen auf dem Gang warten ... Sie war so erleichtert, als sie in ihrem Bett lag, Naama atmete tief, aber sie wusste, dass Jinan wach war. „Ist das deine Art, eine Linke zu sein?“, zischte Jinan von ihrem Bett her. „Was?“, sagte Rayna erschrocken. „Na, dass du mit Rafıq rummachst.“ Rayna wartete absichtlich ein paar Sekunden lang, bevor sie antwortete: „Ach das.“ Sie kicherte. „Ja, das ist auch für den Frieden, mit dem Feind schlafen.“ „Nur — wer von euch beiden ist der Feind?“, sagte Jinan und Rayna hörte am Rascheln von Jinans Decke, dass sie sich im Bett umdrehte. „Welche von den israelischen Mädchen findest du am hübschesten?“ „Von den Mädchen?“, fragte Rayna. „Inbal vielleicht?“ „Hetero“, sagte Jinan und gähnte. „Alle-alle hetero. Das ist ja schlimmer als in al-Quds hier.“ Rayna spürte am nächsten Morgen, dass ihr der Schlaf fehlte. Sie besichtigten die Synagoge in Innsbruck und einen muslimischen Gebetsraum. In der Synagoge war Rayna schon oft gewesen, Inbal sagte, dass sie zu ihrem Glauben zurückfinden wollte, und Rayna war sich nicht sicher, ob sie das ernst meinte. Rayna war ruhig an diesem Tag, sie wich Rafigs Blick aus, stellte sich neben Naama, die meistens allein war, und war froh, als die Hochsicherheitstüren der Synagoge sich wieder hinter ihnen schlossen und sie sich auf dem Weg zum muslimischen Gebetsraum machten, wo sie mit Tee und Gebäck empfangen wurden. Rayna setzte sich im Schneidersitz zu den anderen auf den Boden, fuhr mit dem Finger das Teppichmuster nach und lauschte den Erklärungen des Imams. „Wie werde ich Muslima?“, fragte Rayna Jinan. „Du musst es nicht übertreiben, Süße“, sagte Jinan. „Ich glaube dir auch so, dass du keine jüdische Faschistin bist.“ Rayna kam es nicht so vor, als ob sie schon eine Woche lang zusammen unterwegs waren, als der letzte Abend in Innsbruck kam und sie in ein Restaurant eingeladen wurden. Rayna saß mit denjenigen, mit denen sie sich angefreundet hatte, zusammen an einem runden schön gedeckten Tisch, Jinan spielte mit dem Blumenschmuck, Kalab und Rafiq lachten über etwas, was Rayna nicht mitbekommen hatte, und Inbal schwärmte vom Ballett, aber Rayna hörte ihr kaum zu, nickte nur immer wieder. Linoy warf dem Nachbarstisch schnsüchtige Blicke zu, Inbal bemerkte spöttisch, dass sie sich in einen der Tiroler verliebt hätte und dass man ein Diagramm zeichnen sollte, wer mit wem schon etwas gehabt hatte bisher. Nach dem Essen hatten sie den Abend frei. Sie hatten zweimal Pech, weil die Türsteher sie ohne Ausweise nicht hineinlassen wollten, aber am Schluss fanden sie etwas weiter abseits vom Zentrum eine Bar mit guter Musik. Rayna wusste nicht, ob es der Alkohol war oder die Simmung, aber sie spürte eine Wärme in sich, die sie gar nicht gewohnt war, und jedes Mal, wenn sie mit Rafiq sprach, reichte diese Wärme bis in ihre Fingerspitzen. Jinan rauchte und Rayna nahm sich die Zigarettenschachtel und las langsam die hebraische Warnung vor dem Tod durch das Rauchen. „Liest mir jemand das Arabische vor?“, fragte sie. Kabal sagte es auswendig auf. „Kennt ihr den Witz?“, fragte Linoy. „Warum schreiben sie dieses ‚Rauchen kann tödlich sein‘ auch auf Arabisch auf die Zigarettenschachteln? - Sollen die Araber doch sterben.“ „Oh Gott, das ist nicht lustig!“, sagte Rayna empört. Aber Jinan kicherte und verschluckte sich dann und musste husten. „Ihr in Österreich seid so korrekt“, sagte Kabal. „Wir machen über alles Witze und nehmen das nicht so ernst.“ „Ja, wir machen ständig über den Holocaust Witze“, sagte Inbal. „In der Jugendherberge - die Betten sind ja nicht gerade die bequemsten. Linoy hat sich in der ersten Nacht beschwert, dass das schlimmer sein muss als in den Baracken in Auschwitz. Und jeder hat mindestens eine Oma oder einen Opa, der überlebt hat.“ „Ich finde solche Witze trotzdem nicht in Ordnung“, sagte Rayna. „Wenn bei uns jemand so einen Witz machen würde“, sagte Stella, „könnte man Anzeige erstatten.“ „Klar.“ Rayna schnaubte. Als sie in die Jugendherberge zurückkamen, ging Rayna gleich ins Bett, und als sie die Augen zumachte, bereute sie, die verschiedenen Momente, in denen sie Rafiq hätte küssen können, vorbeizichen gelassen zu haben. „Wir gehen noch alle in Stellas Zimmer“, sagte Jinan zu Rayna. „Was? Du hast schon deinen Pyjama an? Das ist die letzte Nacht in Innsbruck, morgen fahren wir schon in Richtung Wien, komm jetzt, raus!“ Rayna ließ sich von Jinan überreden, wieder aufzustehen, aber sie ging nicht mit in Stellas Zimmer, wo ein Großteil des Biervorrats versteckt wurde. Sie klopfte an Rafıgs Zimmertür und er war wirklich allein. „Keine Angst, ich will nur ein bisschen reden“, sagte Rayna und setzte sich auf sein Bett. „Es stimmt wirklich, die Jungenzimmer sehen viel schlimmer aus als die von den Mädchen. Räumt ihr gar nie auf? Morgen muss alles gepackt sein, wir fahren schon früh los.“ „Halb so wild“, sagte Rafiq. „Warst du schon mal dort?“ „Wo wir morgen hinfahren?“ „Ja, Mauthausen.“ Oktober 2016 39