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„Meine Großmutter Shosha ist ein Fan“, sagte Rayna trocken. „Jedes Mal, wenn sie zu Besuch kommt, pilgern wir zu einem anderen Lager in der Nähe.“ „Woher kommt sie?“, fragte er. „Aus Polen.“ „Eine eiskalte Frau also“, sagte Rafiq lächelnd. „Ich mag keine Vorurteile“, sagte Rayna. „Aber bei ihr trifft das schon zu.“ „Dann hast du wohl nichts von ihr“, sagte Rafiq. Rayna wusste weder, wie man „Schleimer“ auf Englisch, noch auf Hebräisch sagte, und schwieg deshalb. „Ich habe nachgedacht“, sagte Rafıq. „Wegen dem ganzen Identitätsding, bei dir mit Israel und Österreich. Ich weiß auch nicht, als was ich mich fühlen soll. Ich bin Israeli, aber ich bin Palästinenser. Verstehst du?“ „Aber du bist Palästinenser“, wiederholte Rayna. „Wir sind Bäume ohne Wurzeln“, sagte Rafıq. „Ha-ha, wirst du jetzt poetisch?“ Rayna verdrehte die Augen. „Wir haben vielleicht schon Wurzeln, nur keine Erde, an der wir uns festhalten könnten.“ „Kein Land“, sagte Rafıg. Sie lagen auf der unteren Matratze des Stockbetts und das Bett hätte überall auf der Welt stehen können. Die jüdischen Israelis weinten, kaum dass sie aus dem Bus gestiegen waren. Das war also so ein Ort. Sie waren hier und all das, was man ihnen erzählt hatte, hatte hier stattgefunden, an einem Sommertag wie heute. Rayna blieb nah neben Rafıq stehen, der die ganze Fahrt kaum ein Wort gesagt hatte. Linoys Schminke war schon ganz zerlaufen. „Ich will da nicht rein!“, schluchzte sie. „Mir scheißegal, was zum Programm gehört. Ich gehe nicht mit. Ich will weg von hier.“ Inbal stand neben ihr, auch ihr liefen Tränen über die Wangen. Rayna wollte zu ihr hingehen und mit ihr reden, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Aufeinmal kam es ihr so vor, als ob das alles sie nicht betreffen würde. Sie und Rafiq gehörten nicht dazu. Sie wurden willkürlich in zwei Gruppen aufgeteilt, damit die Führung durch das chemalige Lager nicht mit dreißig Leuten stattfinden musste. Rayna hörte bei der Einführung gar nicht zu, ein junger Mann redete, er schien recht nervös zu sein und nicht zu wissen, wie er auf die verweinten Gesichter reagieren sollte. Linoy war trotzdem mitgegangen. Sie hielt Inbals Hand. „So eine Gruppe wie euch hatte ich noch nie“, sagte der junge Mann, der die Führung machen würde, und Rayna zog automatisch die Schultern hoch, wie um sich zu verteidigen, aber sie wusste nicht, wovor. „Österreichische, israelische, palästinensische Jugendliche, alle zusammen — und ihr kommt hierher.“ Rayna fand, dass er ihnen das nicht zu sagen brauchte. Rayna strengte sich an. Sie rieb sich die Augen. Sie dachte daran, dass sie ihre Großmutter Shosha liebte. Sie liebte sie doch. Shosha hätte ihre Familie behalten können, Shosha wäre nicht die Frau, die sie heute war, wenn ihr nicht passiert wäre, was der junge Mann jetzt beschrieb. Aber Rayna weinte nicht. So schr sie sich konzentrierte, sich anstrengte, sie konnte nicht weinen. Die Sonne schien zu stark. Zu freundlich. Die anderen Besucherinnen und Besucher lächelten, sie spazierten auf dem Platz zwischen den Gebäuden herum, Kinder spielten Fangen. Rayna 40 ZWISCHENWELT wollte Rafiqs Hand nehmen, traute sich aber nicht. Sie besichtigten das Innere einer Baracke, die Einrichtung war rekonstruiert worden. Rayna fühlte sich wie auf einer Theaterbühne. Sie berührte eine Fensterscheibe mit der Fingerspitze, lehnte sich an eine Wand, der Knoten in ihrem Hals wurde hart und sie hatte Schwierigkeiten, zu schlucken. Sie mussten unter die Erde hinabsteigen. Die Beschilderung war eine Drohung. Rayna stellte sich vor, wie es sich anfühlen musste, das Gas einzuatmen. Hier unten, wo die Luft ohnehin schlecht war, wo cs sich enger anfühlte, als es eigentlich war, nur durch das Wissen, was hier passiert war. Wie die Körper übereinander gefallen sein mussten. Rayna stieg als letzte die Treppe hinauf ins Freie, die Soemmerhitze war angeschwollen und kleine Vögel pickten im Kies. Ein paar Bauarbeiter reparierten etwas und unterhielten sich laut. Sie kamen in einen Raum mit Fotos von Opfern an der Wand, ihre Namen standen da, und Rayna achtete nicht mehr darauf, wer alles weinte, wer betroffen dreinsah, wer die Lippen zusammenpresste, wer ruhig blieb. Sie war nur mit sich selber da und betrachtete die Gesichter auf den Abbildungen, las die Namen. Niemand hier hieß Shosha. Das hier hatte nichts mit Shosha zu tun. Das hatte nichts mit Rayna zu tun. Rayna hatte keine Verpflichtung zu weinen. Die Führung war zu Ende. Die andere Gruppe wartete schon bei den Obstbäumen draußen, ein Weg führte abwärts, sie kamen am Denkmal für die ermordeten Kinder vorbei und Rayna hätte am liebsten geschrien, es war, als ob der Schrei nach innen gehen würde, in ihren Körper, dort ihre Organe zerriss. Der Abstieg zu der Wiese ließ Rayna Zeit, sich auf die Zeremonie einzustellen. Sie hatten alles in Innsbruck vorbereitet und geprobt, einer von den Israelis, Ronen, hatte seine Gitarre dabei, sie hatten Lieder einstudiert, Inbal wiirde singen, Rayna wollte ein Gedicht vorlesen. Die Fallschirmklippen ragten hoch auf, Rayna schätzte, wie viele Sekunden die Menschen hier gefallen waren. Die Fallschirmspringerinnen und Fallschirmspringer, die diesen Tod vorzogen. Das Gras war hoch, ein kleiner, tiefer See lag ruhig da, sein Wasser dunkelblau. Sie fanden sich in einem großen Kreis zusammen und schwiegen zuerst. Die Erwachsenen sagten nichts, keiner von den Jugendlichen wollte anfangen. Rayna wartete ab. Rafıq warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Sie holte ihren Zettel hervor, faltete ihn auseinander, und begann zu lesen, mit fester, sicherer Stimme trug sie das Gedicht vor, das Felia einmal für sie geschrieben hatte. Aber die Buchstaben verschwammen und Rayna sprach Zeile um Zeile auswendig und als sie geendet hatte, folgte wieder Stille. Dann begann Ronen mit der Gitarre zu spielen und Inbals Stimme brach beim ersten Ton, aber sie sang tapfer weiter: „Eli, eli, she lo yegamer leolam ...“ Rayna wollte nicht, dass das hier endete. Dieser strahlende Tag, an dem sie alle zusammen waren, im Kreis standen, weinten und sangen und Worte austauschten. Diese goldene Stunde mit dem blauen Himmel über ihnen und den Felsen, dem See, den Bäumen. Der Wind wehte sanft und dämpfte die Stimmen, die Musik. Am Abend kamen sie in Wien an und bezogen ihr Hotel, das um einiges schöner war als die Jugendherberge in Innsbruck. Die Zimmereinteilung war nicht mehr so streng und Rayna schlief mit Jinan, Inbal und Linoy in einem Vierbettzimmer. Ihre Gedanken