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hatten sich von Mauthausen entfernt. Ihnen blieben zwei Tage in Wien zusammen, am dritten Tag in der Früh würden sie abreisen. Es war viel zu heiß, um sich alle Orte anzuschauen, die auf ihrer Karte eingezeichnet waren, und so setzte sich Rayna mit den vier Leuten, mit denen sie unterwegs war, lieber in ein Cafe bis es Zeit war, zu ihrem Treffpunkt zu kommen. Der allerletzte Tag war frei, sie konnten ihn gestalten, wie sie wollten, und Rayna fand ihn zu lange, zu atemlos. Während viele in die Einkaufsstraße gingen, um Geschenke für ihre Familie zu kaufen, verbrachte Rayna die Zeit damit, herumzuspazieren, sich über die Hitze zu beschweren und sich anzuhören, dass die Hitze in Israel viel schlimmer sei. Rayna hatte das Gefühl, etwas zu verpassen, nicht genug mit ihren neuen Freundinnen und Freunden zu reden. Sie trank am Abend so viel Alkohol, dass die Welt sich verschob und sie Angst vor Dingen hatte, über die sie normalerweise nie nachdachte. Und dann kam der Morgen der Abreise. Die großen Fenster der Hotellobby waren überzogen von strömendem Wasser, ein Schleier — oder wie Plastikklebefolie, damit man nicht durch das Glas blicken konnte. Die Koffer standen dicht beieinander, schüchterne Tiere, die sich gegenseitig wärmen wollten. Die Köpfe eingezogen, die Schultern bebend, vollgestopft mit getragenen Kleidungsstücken, die in der Eile nicht mehr ordentlich zusammengefaltet worden waren, sondern zerdriickt und hineingepresst, Lydia Mischkulnig Nora schreibt Erzahlung Ein K6rper sitzt am Tisch und schreibt. Die Beine sind übereinandergeschlagen und die Füße sind nackt. Der Stoff Hießt über den Schenkel. Die Hand führt den Stift. Die Zähne kauen am Holz. Der Stift klopft den Takt. Literatur ist bis zum äußersten Ausmaß mit Bedeutung aufgeladener Worte Inhalt transportierende Rhythmik. Der Körper streckt sich und geht ins Bad. Dann gerät er in Resonanz mit der Therme. Das Feuer faucht und das Wasser wird heiß, er stellt sich unter die Dusche, trocknet sich ab, hüllt sich in den Bademantel, holt sich Socken und kommt zurück an den Tisch und schiebt sich ein Kissen unter die Sitzknochen. Er legt die Hand auf die Stirn und richtet seine Augen auf das Handy. Es gibt noch keinen Anruf. Das Display ist glatt und schwarz. Der Körper hat auch seine Oberfläche und macht sie hübsch. Cremes, Kleidung, Parfum. Der Körper macht alles, was ihm gut tut. Er drängt sich nicht auf, unterwirft sich in keiner Weise. Er ist großzügig und weise und lässt Gedanken freien Lauf. Er verletzt sich nicht, außer dass er manchmal raucht. Der Körper hat noch keinen Schaden erlitten, er weiß nicht einmal, was das ist. Würde ist nicht nur ein Wort, Würde ist eine Form der Lebensumstände, in die er sich wie heute führt. Mit Würde füllt er den Mund und er lässt den Stift auf das Papier gleiten und Möglichkeiten ausformen. Die Lust flieft durch den Kehlkopf in die Luftröhre, durchdringt ein Meisterwek von Ritzen und Muskeln, blaht Blaschen auf, die sonst den Sauerstoff durch die Zellmembran befördern und das Blut sättigen. Trotzdem wird der Mensch nach Glück hungern vielleicht ein Erinnerungsstück dazwischen, auch österreichische Schokolade für die Familie, einzelne Socken, die man beim letzten Verschieben der Möbel noch gefunden hatte. Rayna umarmte einen nach dem anderen, sie gaben sich Küsse, sagten Dinge wie „Kommt nach Israel!“ — „Wir kommen bald nach Israel, versprochen.“ — „Wir schen uns wieder.“ — „Kommt auf Besuch ...“ Rayna und Rafıq küssten sich mitten in der Menge und niemand sah sie. Er schlang seine Arme um sie, sie drückte ihr Gesicht an seinen Hals. Sein T-Shirt war nass, weil er ein paar Koffer durch den Regen zum wartenden Bus, der zum Flughafen fahren würde, getragen hatte. Rayna sog seinen Duft ein, er hing ihr am Abend immer noch in den Haaren, während der siebenstündigen Zugfahrt nach Hause dachte sie, die dazugehörige Person sei neben ihr. Maya Rinderer, 1996 in Dornbirn geboren, wuchs zweisprachig auf (Hebräisch und Deutsch). Teilnahme an Workshops von Literatur Vorarlberg und der Jugendliteraturwerkstatt Graz. Ab Herbst 2015 Studium der Orientalistik an der Universität Wien. Veröffentlichungen: „Esther”, Roman, Bucher Verlag 2011; „Sommerferienkrieg”, Hörspiel im ORF; „An alle Variablen”, Lyrikband 2013, Bucher Verlag; „Die Bienen fliegen”, Theaterstück 2014, Theater Kosmos; Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Feuilletons (z. B. „Zwischenwelt”, ) und dürsten. Erst wenn der Hals weh tut, wenn alles entzündet ist, legt er sich einen Schal um den Hals, und wird sich schützen. Wieder fällt der Blick auf das Handy. Soll der Körper sich zwingen, auf allen Vieren den Boden zu putzen, bevor der Besuch kommt? Soll er die Nummer eintippen, und die Putzfrau anrufen? Der Tag beginnt für sie später. Der Körper bewegt sich durch die Wohnung. Die Teppiche sind abzusaugen, das Leder gehört eingelassen. Die Tische muss man nur aufräumen. In der Sümmung sich Luft zu verschaffen, räumt der Körper die Teller vom letzten Essen weg, Die Maschine geht auf und die Teller werden in die Laden gestapelt. Biologische Kapseln werden eingeführt, und die Gläser werden mit Gel behandelt. Die Tür des Geschirrspülers schnappt zu, bevor das Wasser prasselt. Die Hände greifen nach der Espressomaschine. Die Finger legen sich um das Ober und Unterteil des Gerätes und die Hände schrauben die Hemisphären des Gebrauchsgegenstandes in entgegengesetzten Richtungen auf. Das Sieb fällt in die Abwasch, der Kaffee verstopft das Rohr. Der Installateur wird seinen Dienst leisten. Es gibt was Besseres als Putzen. Wie ware es mit einem Spaziergang nach dem Kaffee? Die Stadt versammelt Spaziergänge, Jogger und Lieferanten, die zu dieser Stunde in die Fußgängerzonen mit ihren Lieferwagen fahren. Die ersten Araberinnen mit ihren Begleitern vertreiben den Jetlag aus den Emiraten. Die dunklen Gestalten sind auch nur Auswüchse einer Perspektive. Solange es Geschlechter gibt, will der eine vom anderen wissen, was dahinter steckt. Es gibt keine männliche oder weibliche Ästhetik, es gibt nur die Beine Oktober 2016 Al